Kommentar zur Bundestagswahl 2017
Ein anderes Land
Grenzenloser Jubel bei der AfD, Weltuntergangsstimmung bei der SPD und eine CDU/CSU, die ebenfalls keinen Grund zur Freude hat. Die Große Koalition pulverisiert sich selbst. Die Sozialdemokraten fahren ihr historisch schlechtestes Ergebnis ein, der Union ergeht es kaum besser. Der erneute Weg zur Macht ist für die »ewige Kanzlerin« Angela Merkel auf einmal sehr weit geworden – sogar ein Scheitern scheint plötzlich nicht mehr ausgeschlossen.
Von Ulrich Windolph
Die Regierungsbildung wird zum Drahtseilakt
Unsere Demokratie erwartet eine Bewährungsprobe. Die Regierungsbildung wird zum Drahtseilakt, weil erst einmal nur ein Jamaika-Bündnis bleibt. Die SPD schließt eine Große Koalition aus – ein Begriff, der angesichts der Stimmenanteile ohnehin recht merkwürdig klingt. Im neuen Parlament wird es lauter und kontroverser, womöglich auch deutlich ruppiger zugehen. Besonders betrüblich: Jeden vierten Wähler interessiert das alles nicht – die Wahlbeteiligung steigt zwar deutlich, liegt mit etwa 76 Prozent aber immer noch auf zu niedrigem Niveau.
Diese Bundestagswahl 2017 markiert eine Zeitenwende: Erstmals in der Geschichte unseres Landes ist nun das politische Spektrum von ganz links bis ganz rechts im Parlament vertreten – und das ist Chance und Risiko zugleich. Deutschland vollzieht damit eine Entwicklung nach, die es in anderen europäischen Ländern längst gibt und die dort noch dazu viel ausgeprägter ist. Allerdings haben diese Länder auch nicht unsere Geschichte.
Merkel persönlich ist gefordert
Doch Panik nützt jetzt keinem, auch wenn der Handlungsdruck riesig ist. Die etablierten Parteien werden rasch Antworten finden müssen auf die Fragen, die offenkundig für zu viele Bürger unbeantwortet geblieben sind. Besonders Angela Merkel persönlich ist gefordert – an ihr scheiden sich die Geister. Für die einen ist sie Fels in der Brandung, für andere Grund allen Übels.
Die AfD wird beweisen müssen, dass sie mehr kann als den Protest zu organisieren und Wut in Wählerstimmen zu verwandeln. In den 13 Landtagen, in denen sie bisher vertreten ist, war davon noch nicht viel zu sehen. Nun kann sie es auf der bundespolitischen Bühne besser machen – und die ganze Welt schaut gespannt dabei zu.
Nachdenklichkeit im Konrad-Adenauer-Haus
Dem Absturz zum Trotz ist die CDU/CSU klar stärkste Fraktion und hat damit den Auftrag zur Regierungsbildung. Das war es aber auch mit den guten Nachrichten. Der Sieg schmeckt schal. Wo vor vier Jahren noch zu der Toten-Hosen-Hymne »An Tagen wie diesen« getanzt und gefeiert wurde, herrschte am Sonntag Nachdenklichkeit im Konrad-Adenauer-Haus. Die CDU ernüchtert, die CSU entsetzt: Im Lager der kleinen Schwesterpartei leuchten alle Alarmlampen. Ein Jahr vor der Wahl in Bayern dürfte der Streit um die Flüchtlingspolitik und eine Obergrenze nun neu entflammen – und mit der demnächst anstehenden Debatte um das Thema Familiennachzug rasch neue Nahrung erhalten. Zugleich ist die Gefahr groß, dass die AfD vollends zum Fixstern der deutschen Politik wird.
Auch das Ansehen der Kanzlerin ist arg ramponiert. Zwar steuert Angela Merkel – wie allerseits erwartet – ihre vierte Amtszeit an, zwei unangenehme Fragen werden sie aber sofort beschäftigen: Erstens wie sie mit den ungleichen und uneinigen Jamaika-Kandidaten CSU, FDP und Grünen ein halbwegs stabiles Bündnis schmieden soll. Und zweitens, wie sie verhindert, dass die Debatten in der CDU über die Zeit nach ihr nicht nur leise, sondern bald schon laut geführt werden. Es wird interessant zu beobachten sein, ob es Merkel gelingt, nach diesem Ergebnis noch einmal eine Position der Stärke zurückzugewinnen.
Die SPD muss sich trauen
Die SPD freilich plagen ganz andere Probleme. Martin Schulz hat alles versucht. Sein Kampfeswille und sein Zweckoptimismus bis zum Schluss müssen einem Respekt abnötigen – egal, wie man zu den Sozialdemokraten steht. Doch in der Politik zählt Dankbarkeit wenig. Nun stehen die Zeichen auf Opposition. Und mit Blick auf die dann wenigen noch zu verteilenden Posten könnte alsbald ein Hauen und Stechen einsetzen. Der Name Andrea Nahles dürfte eine wichtige Rolle spielen – womöglich wird sie neue Fraktionsvorsitzende. Allerdings hat die Partei viel weniger ein personelles als ein strukturelles Problem. Die SPD muss endlich klären, ob sie sich traut, als Partei der Mitte das linke Lager anzuführen.
Das würde auch bedeuten, die Linke zu fordern statt sich dauernd von ihr treiben zu lassen. Sahra Wagenknecht allein ist es in diesem Wahlkampf gelungen, alle Brücken zu den Sozialdemokraten wenn nicht einzureißen, so doch wenigstens zu verbarrikadieren. Offenkundig hat sich die Linke bequem im Elfenbeinturm der Opposition eingerichtet. Dass sie da aber für ihr Klientel wenig erreichen kann, muss insbesondere den Realpolitikern im Osten zu denken geben. Und wer allein gegen Angela Merkel protestieren wollte, konnte dieses Mal statt der Linken halt ebenso gut die AfD wählen. Ohnehin sind sich die politischen Extreme in vielen Punkten erschreckend nahe.
Deutschland hat gewählt – und wacht am Montag in einem anderen Land auf.