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Fruchtalarm-Gründer Marcel Lossie aus Bielefeld: Interview zum Tod von Moritz (8) und einem besonderen Projekt

Der Wunsch seines Sohnes

Bielefeld (WB). Sein Sohn war acht Jahre, als er an Krebs starb. Marcel Lossie (43) hat ihm einen Wunsch erfüllt. Das war vor zehn Jahren. Seitdem gibt es das Bielefelder Kinderhilfsprojekt Fruchtalarm, das krebskranke Kinder unterstützt. Ein Interview.

Fruchtalarm hat bundesweite Beliebtheit. Die Bielefelder haben das Hilfsprojekt in ihr Herz geschlossen. Für Marcel Lossie begann die Gründung mit einem Schicksalsschlag. Foto: Patrick Pollmeier

Vor zehn Jahren wurde bei Ihrem Sohn ein Hirntumor diagnostiziert. Mit acht Jahren ist er an den Folgen seiner unheilbaren Krebserkrankung gestorben. Erzählen Sie uns von ihm?

Marcel Lossie: Kurz vor seinem siebten Geburtstag bekamen wir – aus dem Nichts – im Mai 2010 die Diagnose mitgeteilt. Moritz besuchte die erste Klasse, spielte gerne Fußball, war aktiv, lebensfroh und sehr stolz, jetzt auch ein großer Bruder zu sein. 2009 wurde seine Schwester geboren. Am Tag nach der Diagnose folgte eine Operation, die zur Folge hatte, dass er weder Schlucken noch Gehen konnte. In der folgenden Zeit hatte er sich Stück für Stück zurückgekämpft, sogar so weit, dass 2011 ein Start in der 3. Klasse anstand. Kurz vor Schulbeginn wurde ein Rezidiv diagnostiziert. Den Inhalt seiner Spardose sollte ich seinem Wunsch nach an Kinder spenden, denen es ebenfalls nicht gut geht.

Was haben Sie auf der Krebsstation erlebt?

Lossie: Die erste Zeit kann ich nur als „schlechten Film“ beschreiben, in dem man sich plötzlich wiederfindet. Als Elternteil fühlt man sich absolut hilflos, weil man medizinisch nicht unterstützen kann. Dennoch gab es den Willen, unbedingt etwas tun zu wollen. Einige Nebenwirkungen der Chemo- und Strahlentherapie sind die Veränderungen der Sinne: Besonders der Geschmacks- und Geruchsinn verändern sich maßgeblich, oft lehnen die Kinder und Jugendlichen auch gänzlich ab, zu essen oder auch zu trinken. Alarm gab es wegen der vielen piependen Geräte ständig in jedem Zimmer. Die Defizite und die überwiegend nicht fröhlichen Augenblicke haben zu der Fruchtalarm-Idee geführt.

Dienstags ist Fruchtalarm-Tag auf der Station in Bielefeld. Hat der Dienstag für Sie deshalb eine besondere Bedeutung?

Lossie: Mit jeder Klinik wird ein fester Tag vereinbart, an dem Fruchtalarm stattfindet, in Bielefeld ist es zufällig der Dienstag geworden. Wichtig war mir von Anfang an eine verbindliche Regelmäßigkeit, damit die Kinder etwas haben, auf das sie sich freuen oder worauf sie auch „hinarbeiten“ können.

Mit Fruchtsäften kann Krebs nicht geheilt werden. Aber Fruchtalarm ist viel mehr als nur bunte Cocktails. Warum?

Lossie: Die Kinder und Jugendlichen haben beim Fruchtalarm das Sagen und können selbstbestimmt Entscheidungen treffen, was sonst oft nicht möglich ist. Zudem werden alle Sinne stimuliert: Die bunten Farben, das Klimpern der kalten Eiswürfel im Shaker, die vielen Gerüche der Zutaten und das geschmackliche Ergebnis der eigenen Rezeptur des Cocktails, den sie selbst zubereitet haben.

Warum ist es für die Erkrankten aus medizinischer Sicht so wichtig, Säfte zu trinken?

Lossie: Es ist wichtig, dass etwas getrunken wird. Die Cocktails motivieren zusätzlich, es auch zu tun. Die Geschmackssinne spielen so oft verrückt, dass diese genau in dem Fruchtalarm-Moment bedient werden können.

Wenn Sie oder Ihre Kollegen mit dem Cocktailwagen auf die Station kommen - was erleben Sie insbesondere bei Kindern? Wie reagieren Sie auf die Säfte und auf das Mixen?

Lossie: Als betroffenes Elternteil durfte ich damals nicht „aktiv“ den Fruchtalarm durchführen. Ich bin mir auch nicht sicher, ob ich dazu in der Lage gewesen wäre. Heute sind mehr als 250 „Fruchties“ – so nennen wir die Helfer – aktiv und mixen wöchentlich in 31 Kinderkrebskliniken. Die Rückmeldungen der jungen Patientinnen und Patienten und deren Eltern sind überwältigend.

Können Sie sich noch an den ersten Fruchtalarm erinnern?

Lossie: Ja, es war im Oktober 2010. Ein Kind hatte sich mehrere Tage nicht aus dem Bett bewegt und kaum getrunken. Mit dem Fruchtalarm hat es sich aufgerappelt, einen Cocktail gemixt und ihn getrunken. Das hat spätestens dann auch die Ärzte überzeugen können, dass Fruchtalarm mehr ist als nur eine mobile Cocktail-Bar.

Du musst kein Obst sein, um zu helfen, lautet ein Slogan von Fruchtalarm. Wie können Menschen das Projekt unterstützen?

Lossie: Bundesweit werden ehrenamtliche „Fruchties“ gesucht, die regelmäßig im Team die Kliniken in ganz Deutschland besuchen. Neben den aktuell 31 Standorten sind weitere in Planung, so dass wir hoffentlich bald die 40 erreichen können. Fruchtalarm ist ein rein spendenfinanziertes Projekt, welches neben dem ehrenamtlichen Engagement somit auch auf Spenden und Hilfen angewiesen ist.

Sie haben viele Auszeichnungen bekommen. Fruchtalarm hat mittlerweile eine bundesweite Aufmerksamkeit. Hätten Sie jemals damit gerechnet, dass das Projekt so erfolgreich sein wird?

Lossie: Den Kindern und Jugendlichen ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern, werte ich als großen Erfolg und als wertvollste Auszeichnung. Das hat direkt beim ersten Fruchtalarm 2010 funktioniert. Die Auszeichnungen und bundesweite Aufmerksamkeit haben sicher mit unterstützt, dass es Fruchtalarm heute an so vielen Standorten in ganz Deutschland gibt. Dass es so kommt, habe ich mir gewünscht.

Was empfinden Sie, wenn Sie derartigen Zuspruch bekommen?

Lossie: Dankbarkeit. Es hat viel Kraft gekostet, Fruchtalarm zu starten. Und es hat mindestens so viel Energie zurückgegeben. Von Anfang an haben viele Menschen aus meinem privaten und beruflichen Umfeld an die Idee geglaubt und diese unterstützt.

Zehn Jahre Fruchtalarm – wie geht das Projekt weiter? Was haben Sie für Ziele?

Lossie: In der aktuellen Situation hat Fruchtalarm besondere Herausforderungen zu meistern: Wegen Corona kann das Projekt nicht wie gewohnt durchgeführt werden. Zum Teil werden kleine Cocktailkoffer und die Zutaten in die Kliniken geliefert, die „Fruchties“ begleiten die Kinder dann digital. Oder es wird in bestimmten Zonen in den Krankenhäusern auf Bestellung gemixt, die Eltern bringen dann die Cocktails zu den Kindern. Kreativität ist gefragt. Ziel ist es, die Standorte nachhaltig und verlässlich zu bedienen und bald alle Kliniken in Deutschland erreichen zu können. Das sind gut 50. Darüber hinaus spricht nichts dagegen, Fruchtalarm auch in weitere Länder zu bringen.

Sie haben es geschafft, einen der schwersten Schicksalsschläge, den es überhaupt geben kann, zu überwinden. Was raten Sie Menschen, denen ähnliches widerfährt?

Lossie: Einen solchen Schicksalsschlag kann man nicht überwinden. Man kann aber einen Weg finden, mit ihm zu leben. Meine Familie, Freunde und Fruchtalarm haben mir dabei geholfen. Es ist schwer, einen Rat zu geben, da jeder Weg individuell ist. Es ist auch völlig okay, sich auf diesem mal zu verlaufen. Wichtig ist dann, den Mut und die Kraft zu haben, wieder auf den für sich richtigen Weg zu finden. Dabei können Familie, Freunde oder auch andere Personen unterstützen.

Fruchtalarm

Einmal wöchentlich rollt eine mobile Kindercocktailbar über die Flure von mittlerweile 31 Kinderkrebsstationen in ganz Deutschland. Aus Säften, Nektar und Sirupsorten werden bunte geschmacksintensive Fruchtcocktails kreiert. Die bunten Drinks mixen die jungen Patienten direkt am Krankenbett – nach den eigenen Wünschen mit den ehrenamtlichen Helfern, die als „Fruchties“ bezeichnet werden. Fruchtalarm fördert so die Aktivität, Selbstbestimmung und Lebensfreude und bietet im meist fremdbestimmten Klinikalltag eine Abwechslung für die schwer erkrankten Kinder und Jugendlichen. Im Jahr 2019 wurden in ganz Deutschland bei mehr als 1400 Fruchtalarm-Einsätzen mehr als 50.000 Cocktails gemixt und mehr als 12.000 Kinder und Jugendliche erreicht.

Fruchtalarm entstand 2010 in Bielefeld und ist rein spendenfinanziert. Zu den 31 Standorten von Fruchtalarm gibt es weitere Zusagen in vier Städten; Ulm, Karlsruhe, Dresden und Schwerin. Im Projektbüro in Bielefeld arbeiten neun Teil- und Vollzeitkräfte. Seit 2012 fungiert die von Laer-Stiftung als sozialer Träger.

Zur Person

Marcel Lossie (43) ist aufgewachsen in Bielefeld. Seit 18 Jahren ist er verheiratet mit seiner Frau Tina. Die beiden haben drei Kinder – Max (19), Leni (11) und Louise (5). Der Veranstaltungskaufmann ist seit der Gründung im Jahr 2000 bei der Bielefelder Agentur fast4ward tätig und dort verantwortlich für Events & Marketing. Marcel Lossie ist Markengründer von Gin Lossie und Rübe Vodka. Seit 2018 betreibt die fast4ward GmbH mit der Schwestergesellschaft Lokschuppen Event GmbH den gleichnamigen Lokschuppen. Lossie ist Mitglied bei den Service Clubs Round Table 17 und dem Rotary Club Bielefeld-Waldhof. Seit der Gründung von Fruchtalarm begleitet er das Projekt ehrenamtlich.

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