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Bielefelder Reaktionen auf den von Bund und Ländern beschlossenen „Lockdown light“

„Die Stimmung ist katastrophal“

Bielefeld (WB). Der am Mittwoch von Bund und Ländern beschlossene „Lockdown light“ sorgt in Bielefeld in den betroffenen Branchen für Bestürzung – und hat auch Auswirkungen auf Bereiche, die nicht davon betroffen sind. Ein Überblick:

Michael Schläger, Uta Jostwerner, Burgit Hörttrich, Sabine Schulze, Arndt Wienböker und Peter Bollig

Der „Lockdown light“ sorgt in den betroffenen Branchen für Bestürzung. Foto: imago

Gastronomie

„Die Stimmung ist katastrophal“, sagt Regine Tönsing, Hauptgeschäftsführerin des Hotel- und Gaststättenverbandes Ostwestfalen (Dehoga). „Wir haben den ganzen Sommer über gekämpft, um einen zweiten Lockdown zu verhindern, und jetzt das.“ Tönsing hat Zweifel, ob die Zusage, im November bis zu 75 Prozent des entsprechenden Vorjahresumsatzes ersetzt zu bekommen, tatsächlich umgesetzt wird. „Dazu gibt es noch viele offene Fragen.“ Werde Kurzarbeitergeld abgezogen? Wie steht es mit dem Außer-Haus-Verkauf? „Ein Gastronom hatte ein gutes Beispiel dafür: Uns wird ein Kotelett unter die Nase gehalten, und am Ende ist es ein abgenagter Knochen.“

Die 800 Bielefelder Gastronomen fühlten sich als Bauernopfer. Dabei sei so viel auf den Weg gebracht worden. QR-Codes zur Kontaktdaten-Erfassung, Zelte und Heizpilze vor den Gaststätten, Plexiglas-Scheiben im Inneren. „Und dann wird uns noch bescheinigt, dass die Gastronomiebetriebe gar nicht die Hauptverursacher sind.“ Lägen Details der neuen Regelung vor, würden die auch juristisch geprüft, kündigt Regine Tönsing an. Klagen ihres Verbandes auf Bundes- oder Landesebene schließt sie nicht aus.

Theater

„Wir hätten uns natürlich gewünscht, dass es anders kommt, aber wir tragen die Entscheidung mit und hoffen, dass der Wellenbrecher Lockdown die Dynamik des Infektionsgeschehens anhält“, sagt Intendant Michael Heicks.

Die ursprünglich für den November geplanten Premieren von „Frankenstein“ und dem Familienstück „Der Räuber Hotzenplotz“ werden laut Heicks auf den Dezember verschoben. Um der großen Kartennachfrage vornehmlich nach dem „Hotzenplotz“ nachkommen zu können, sollen Vorstellungen ins kommende Jahr verlegt werden. „Das ist möglich, weil wir konkret nur für zwei Monate geplant haben. Das ermöglicht uns eine große Flexibilität. Im Einzelnen müssen wir schauen, wo wir welche Vorstellung hinschieben. Wir versuchen, ausgefallene Termine nachzuholen“, verspricht Heicks.

Sollte das Theater wie bislang geplant im Dezember wieder öffnen dürfen, will Heicks den Spielplan mit allen geplanten Premieren halten. „Ich gehe davon aus, dass wir nichts rausschmeißen müssen“, sagt der Intendant.

Noch ist indes unklar, ob der Probenbetrieb während des Lockdowns im November weitergehen kann. Heicks: „Es gibt dazu noch keine Verordnung. Die Entscheidung trifft die Landesregierung in Düsseldorf und geht dann an die Kommunen. Ob die Schließung eines Theaters auch den Probenbetrieb einschließt, ist eine Interpretationsfrage, die geklärt werden muss. Es wäre natürlich wichtig, wenn wir weiter proben könnten.“

Heicks betont, dass das Hygiene- und Abstandskonzept des Theaters Bielefeld effizient sei. „Wir haben gute Arbeit geleistet, und wir sind von allen dafür gelobt worden, auch vom Gesundheitsamt. Doch jetzt ist es wichtig, dass wir uns solidarisch zeigen und die Schließung mittragen. Auch wenn wir gerne weitergespielt hätten. Nicht nur aus ökonomischen Gründen, sondern als Beitrag zum sozialen Frieden. Denn Kultur ist der Kitt, der eine Gesellschaft zusammenhält“, ist Bielefelds Theaterintendant überzeugt.

Kino

„Damit hätte ich niemals gerechnet“, sagt Jürgen Hillmer, Geschäftsführer der Bielefelder Kinos Lichtwerk und Kamera, zum erneuten Shutdown. Die Kinos deutschlandweit hätten „alles nur Menschenmögliche“ getan, um alle Hygienevorschriften und Sicherheitskonzepte umzusetzen. Hillmer: „Wir haben diese Vorschriften sogar übererfüllt.“ Er weist auf den stündlichen Luftaustausch in den Sälen, die Einhaltung der Abstände, das Masketragen während der Vorstellung, den Online-Ticketverkauf hin. Das alles habe dazu beigetragen, dass die Kino-Besucher Vertrauen hätten, das Publikum wieder gekommen sei. Hillmer verweist auf die Branchenverbände HDF und AG Kino, die bestätigt hätten, dass es weltweit keinen einzigen Covid-19-Fall gebe, dessen Infektionsursache in einem Kino gelegen hätte. Kino sei ein sicherer Ort.

Hillmer fühlt sich durch die Publikumsresonanz bestätigt: „Es kommt wieder, weil auch wieder neue Filme kommen.“ Hochzufrieden sei er zum Beispiel mit dem Kinderfilmfestival, das aus Sicherheitsgründen auf zwei Wochen ausgedehnt worden sei: „Die Resonanz war großartig.“ Der erneute Lockdown sei fatal.

Die Filmverleiher hätten längst ihre neuen Startlisten veröffentlicht. Hillmer: „Für den November waren speziell im Arthouse-Bereich interessante Filme angekündigt.“ Dass die großen Blockbuster aus Hollywood-Produktion verschoben worden seien, treffe Lichtspielhäuser wie Kamera und Lichtwerk nicht so wie die großen Multiplex-Ketten. Seine Befürchtung: „Dass einige Filme gar nicht mehr ins Kino kommen, sondern nur noch über Streamingdienste zu sehen sind.“

Die Kurzarbeit für die Mitarbeiter werde verlängert, er hoffe jetzt darauf, dass die Bundesregierung ihr Versprechen wahr mache, kleine Unternehmen mit 75 Prozent ihres Vorjahresumsatzes im selben Zeitraum zu unterstützen. Es wäre frustrierend, wenn die Kinos durchs Raster fallen würden. Die Branche schließe nach Angaben des Verbandes HDF Kino dieses Jahr ohnehin mit Verlusten in Höhe von einer Milliarde Euro ab.

Universität

Seit Wochen und Monaten bereitet sich die Universität darauf vor, am kommenden Montag, 2. November, den Lehrbetrieb wieder aufzunehmen – mit so viel Präsenzveranstaltungen wie möglich. „Schon als die Inzidenzzahlen über 50 gestiegen sind, haben wir die Lehrenden gebeten, das noch einmal zu überprüfen“, sagt Uni-Sprecher Ingo Lohuis. Der eine oder andere werde sicher deshalb noch einmal von Präsenz Abstand nehmen, aber vielfach sei sie ja gut begründet.

Limitierend wirkt die Raumsituation: „Wir haben Seminarräume fast komplett so umgestellt, dass es nur noch Einzeltische gibt.“ Dazu kam für fast jeden Raum ein eigenes Hygiene- und Sicherheitskonzept, „das war ein enormer Aufwand – auch kommunikativ“.

Gerade im Winter nehmen viele Erstsemester ihr Studium auf, damit sie Kontakte bekommen und sich zurechtfinden können, hatten sie beim Planungsprozess „Vorfahrt“, sagt Lohuis: Sie sollen möglichst vor Ort und in festen Gruppen zusammenkommen.

Um zudem weiter zu entzerren, werden ab Montag auch die Öffnungszeiten der Bibliotheken wieder ausgeweitet, von acht bis acht können Lese- und PC-Plätze gebucht und besetzt werden. „Der nächste Schritt ist sicher die Ausdehnung aufs Wochenende“, sagt Lohuis.

Politik

In der kommenden Woche nimmt der Politik-Betrieb im Rathaus seine Arbeit wieder auf. Die ersten Bezirksvertretungen wählen ihre Bezirksbürgermeister, die erste Ratssitzung ist eine Woche später, am 12. November, angesetzt. „Nach jetzigem Stand ändert sich daran nichts“, sagt Organisator Matthias Kricke, Leiter des Büros des Rates.

Beim ersten Lockdown hatte es noch eine Beschränkung der Sitzungen auf 15 Minuten gegeben. Daran ist zum jetzigen Zeitpunkt nicht gedacht. Auch muss gewährleistet bleiben, dass die Öffentlichkeit Zugang zu den Sitzungen hat – allerdings mit Registrierung und entsprechendem Mund-Nase-Schutz.

Amateursport

Auch der Amateursport kommt im November komplett zum Erliegen. „Der Lockdown Nummer zwei ist eine Katastrophe, die wir nicht haben wollten“, sagt Karl-Wilhelm Schulze, Geschäftsführer des Stadtsportbundes Bielefeld (SSB). 220 Vereine in der Stadt sind davon betroffen. „Und die meisten von ihnen sind bislang vorbildlich und sehr verantwortungsbewusst mit der Pandemie umgegangen. Die Vereine haben sich intensiv bemüht, die Vorgaben zu erfüllen. Darum ist es jetzt ein Schlag ins Gesicht für all diejenigen, die vorher alles richtig gemacht haben“, sagt Schulze. Er habe zwar damit gerechnet, dass es den „Sport treffen würde, aber ich habe gehofft, dass es nicht den kompletten Sport treffen wird.“

Die größte Sorge, die den SSB-Geschäftsführer umtreibt, ist die fehlende Perspektive. „Ein System, das man runterfährt, kann man nicht mal eben so wieder hochfahren. Darum kann ich mir auch nicht vorstellen, dass wir am 1. Dezember wieder den normalen Sportbetrieb starten können.“ Ein ehrenamtlich geführter Verein werde „zwar nicht so schnell pleite gehen“. Viel schlimmer sei aber „die Resignation, die sich jetzt ausbreiten kann. Die Vereine sind gerade erst in die Saison gestolpert und werden jetzt wieder ausgebremst.“

Grundsätzlich hält Karl-Wilhelm Schulze erneute Maßnahmen gegen die sich immer weiter ausbreitende Pandemie für notwendig. „Das ist eine gesamt-gesellschaftliche Aufgabe.“ Den vom sportlichen Lockdown nicht betroffenen Profi-Fußball bezeichnet Schulze derweil „als privilegiert ohne Ende“.

Einzelhandel

Im Einzelhandel ist man allenfalls froh darüber, dass die Geschäfte von den Schließung nicht unmittelbar betroffen sind, wie Thomas Kunz, Hauptgeschäftsführer des Handelsverbandes OWL, erklärt. „Das zeigt, dass die Regierung erkannt hat, dass unsere Hygienekonzepte funktionieren und die Kunden in den Geschäften sicher sein können“, so Kunz. Allerdings: „Wenn die Gastronomie rundherum zu bleibt, sehen viele Menschen keinen Grund, in der Innenstadt einzukaufen.“ Der Hauptgeschäftsführer geht davon aus, dass die Umsätze des Innenstadteinzelhandels, der schon jetzt 20 bis 30 Prozent unter dem des Vorjahres liege, weiter einbreche.

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