Bielefelder Professor Andreas Zick über die Krawalle in Stuttgart und Frankfurt
Gewaltforscher: „Wir müssen das Polizeibild vermessen“
Bielefeld (WB). Wo liegen die Ursachen für die Krawalle in Stuttgart, Frankfurt und anderen Großstädten, bei denen Geschäfte zerstört und Polizisten mit brutaler Gewalt angegriffen worden sind? Ist einfach zu viel Testosteron im Spiel, wenn sich junge Männer in Massen im öffentlichen Raum treffen? Und: Bedingt der kulturelle Hintergrund der großen Mehrheit dieser jungen Männer die Gewaltausbrüche? Darüber hat Andreas Schnadwinkel mit dem Gewaltforscher Prof. Dr. Andreas Zick von der Universität Bielefeld gesprochen.
Wie erklären Sie als Gewaltforscher die Gewaltausbrüche an zentralen Plätzen in Stuttgart und Frankfurt?
Andreas Zick : Ich habe direkt nach den Krawallen auf die Notwendigkeit hingewiesen, die Gruppendynamik besser und genauer zu verstehen. An beiden Orten gab es eine Vorgeschichte. Dort haben sich große Gruppen von jungen Menschen regelmäßig getroffen, die sonst in Clubs gegangen wären. Es gab Rituale und eine Kultur einer heterogenen Gruppe. Sie hat dort zwar keine gemeinsame Identität ausgebildet, aber eine Kultur – und es war ihr Raum. Der Raum war auch attraktiv für andere, wie Kleingruppen, die sonst nicht in Clubs kommen, Drogenhändler und andere. Es haben sich auch Räume der freien Gestaltung ergeben, was die Räume wichtig gemacht hat. In der Situation der Eskalation selbst wurde ein Ereignis, eben die Kontrolle durch die Polizei von Einzelnen, von Vielen schnell als Eingriff verstanden. In Situationen mit vielen Menschen, wo es keine klaren Orientierungen an Normen gibt, orientieren sich viele dann an den Personen, die sich auf einmal aggressiv mit der Polizei auseinandersetzen. Und dann ist die Aggression die leitende Norm. Es geht um ein „Wir”, es ergibt sich ein spontaner Zusammenhalt und eine Solidarisierung. Wenn dann der Raum eng ist, es viele Zuschauer gibt und Waffen sowie Drogen im Spiel sind, dann eskaliert es leichter. Zudem spielt die Inszenierung von Männlichkeit dann auch eine Rolle. Wir haben ja gesehen, dass die meiste Gewalt von Männern ausgeht, die sich gewissermaßen in Szene setzen.
Haben die negativen Auswüchse der US-amerikanischen „Black Lives Matter”-Bewegung zu Nachahmungseffekten bei uns geführt?
Zick : Zumindest haben einige derjenigen jungen Menschen, die dort vor Ort waren, den Slogan gerufen und sich darauf bezogen. Es ist weniger eine Nachahmung als ein wichtiges Thema für die jungen Menschen vor Ort. Polizeikontrollen, die Macht der Polizei, die vielen Geschichten über Kontrollen auch in der deutschen Polizei von Menschen mit nicht-weißer Hautfarbe, die vielen Medienberichte von Menschen, die negative Erfahrungen mit Polizei gemacht haben, sind unter jungen Leuten bedeutsam. Es ist ein Teil, der ein negatives Polizeibild zumindest befördert. Die Polizei wird als Störung eher wahrgenommen, und die Bilder einer „rassistischen Polizei” befördern die Sicht, dass die Polizei nicht regelt und ordnet, sondern andere Absichten hat.
Wenn man sich die Videos der Ausschreitungen in Stuttgart ansieht, dann sieht man fast ausschließlich junge Männer mit türkischem und arabischem Migrationshintergrund. Dient „Black Lives Matter” als Sammelbecken für alle Nicht-Weißen?
Zick : Ja, „Black Lives Matter“ ist auch für andere Menschen wichtig, die sich mit Rassismus auseinandersetzen. Es ist eine solidarische Bewegung auch jenseits von Hautfarbe. Natürlich machen sich viele Menschen, die die Erfahrung machen, dass sie in Deutschland als zugewanderte oder „andere Deutsche“ wahrgenommen werden, missachtet werden und nicht als Gleiche wahrgenommen werden, Gedanken. Hautfarbe ist ein Kriterium, aber Menschen mit Migrationsgeschichte wissen, dass viele Menschen auch eine andere kulturelle Herkunft mit scheinbar natürlichen Eigenschaften verbinden. Insofern ist „Black Lives Matter“ mehr als nur eine Antirassismusbewegung gegen den Rassismus, der nach Hautfarbe unterscheidet. Wir müssen natürlich genauer hinsehen. Manche Menschen mit Migrationsgeschichte, die sich vor Ort anstecken lassen und mitmachen bei der Aggression, haben vielleicht einfach nur Spaß an der Gruppendynamik und begründen erst später Gewaltakte mit Rassismus. Deshalb ist die Verbindung der Krawalle mit der Bewegung „Black Lives Matter“ auch nicht direkt und gleich. Für manche ist es Gelegenheit, die Wut auf Rassismus loszuwerden, für andere ist der Rassismusvorwurf nur eine Gelegenheit, die Wut zu erklären.
Der Import von „Black Lives Matter”-Demonstrationen nach Deutschland hat Polizisten zur Zielscheibe gemacht. Bei allen Krawallen ist der Schlachtruf „Fuck the Police” zu hören. Dabei ist die Polizei bei uns ja eher zurückhaltend. Warum dann diese Aggression und Gewaltbereitschaft gegenüber den Polizisten?
Zick : An jeder Ecke im Land lesen wir „ACAB” („All Cops are Bastards“, „Alle Polizisten sind Bastarde“, Anm. d. Red.). Warum wundern wir uns? Die Polizei genießt ein schlechtes Image, was an den steigenden Zahlen von Angriffen auf Polizisten schon vor der Corona-Krise kenntlich wurde. Das Thema ist schon länger da. Wir müssen das Polizeibild vermessen. Es ist geprägt von einem autoritären Respekt, auch der Erwartung, Polizei möge Ordnung herstellen, aber es ist nicht geprägt von einem Bild der Polizei als Teil der zivilgesellschaftlichen Ordnung. Internationale Studien haben sichtbar gemacht, dass in Deutschland Polizei für die Ordnung steht und einen Vertrauensvorschuss in Ordnung bekommt, der sofort in großem Maße zusammenbricht, wenn es schief läuft. Wenn wir von Rassismus bei der Polizei wie auch anderen Vorurteilen hören, dann ist das weniger Anlass dazu, die Ausbildung und Weiterbildung zu fordern, sondern das System Polizei in Frage zu stellen. Insofern polarisiert sich über negatives Verhalten der Polizei sehr viel.
Politiker wie die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) schwächen mit ihren Aussagen die Polizei gegenüber Gewalttätern. Stößt Deeskalation bei jungen Männern aus anderen Kulturkreisen an Grenzen und wird bloß als Schwäche interpretiert?
Zick : Deeskalation stößt an die Grenzen, wenn viele Drogen und Waffen im Spiel sind, aber nicht vor Kultur. Die Polizei ist selbst kulturell divers, wenn auch noch nicht in gewünschtem Maße. Polizei, die interkulturell wenig gebildet ist, stößt an ihre Grenzen, aber das sind die eigenen Grenzen. Wir haben in der Vergangenheit sehr positive Erfahrungen mit interkulturellen Trainings gemacht. Für viele erfahrene Polizistinnen und Polizisten ist das Alltagsarbeit. Aber wenn sie solche riesigen Gruppen haben, wo Gewalt schnell eskaliert, dann erhöht sich die Gefahr, auf den Faktor Kultur oder Migration zu setzen, um irgendwie ein Ordnungsschema zu haben. Am Ende zeigt sich, dass die Gruppendynamik – und das ist Dynamik von vielen unterschiedlichen Gruppen – mächtiger ist als jede Kultur.
Bei den Krawallen in Stuttgart waren auch die Rufe „Allahu Akbar” („Allah ist größer”) deutlich hörbar zu vernehmen. Spielt der Islam hier eine Rolle als Religion oder eher als Kultur?
Zick : Normalerweise kennen wir das bei der Gewalt gegen Polizisten oder andere aus Terrorgruppen, die es beim Anschlag rufen. Das ist eher ein Männlichkeitsgehabe und dem Umstand geschuldet, dass in der Eskalation der Aggression scheinbar alles möglich ist. Da werden viele andere Aussprüche gemacht. Ich würde es nicht noch aufladen. Gläubige Muslime werden sich ärgern, dass das passiert, zumal wenn es von betrunkenen oder mit anderen Drogen aufgeladenen jungen Männern gerufen wird.
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