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Ali Ertan Toprak über den Fall Kocabey in Bielefeld, die Integration der Muslime und Ditib-Gemeinden

„Ich bin entsetzt über die Grünen“

Bielefeld (WB). Die Grünen in Bielefeld sind wegen des Falls Kocabey nicht wählbar. Das sagt Ali Ertan Toprak. Der 51-Jährige gilt als scharfer Kritiker der Ditib-Gemeinden in Deutschland. Jede Stimme für die Grünen in Bielefeld ist im Moment eine Stimme für den türkischen Nationalislamismus, sagt er im Interview.

André Best

Im Fall Kocabey machen sich die Grünen in Bielefeld unglaubwürdig, sind deshalb nicht wählbar, sagt Ali Ertan Toprak. Foto: Sedat Mehder

Sie sind 2014 in die CDU eingetreten. Zuvor waren Sie Mitglied bei Bündnis 90/Die Grünen. Die Bielefelder Grünen haben für die Kommunalwahl einen Kandidaten aufgestellt, der jahrelang Funktionär der Milli-Görüs-Bewegung war. Diese wird vom Verfassungsschutz beobachtet. Was sagen Sie zu dem Vorgang?

Ali Ertan Toprak: Neben Ditib ist Milli-Görüs ein Erdogan vorbehaltlos ergebenes Instrument, den türkischen Nationalislamismus nach Deutschland zu tragen. In ihr wurden Erdogan und die Mehrheit seiner Mitstreiter politisch sozialisiert. Ich bin einfach nur sprachlos und entsetzt. Damit verraten die Grünen nicht nur alle emanzipatorischen Werte, die sie angeblich verteidigen, sondern fallen auch allen säkularen und demokratischen türkeistämmigen Menschen in den Rücken. Der Kampf gegen Rassismus und Rechtsextremismus ist universell. Wer sich nur gegen deutschen Rechtsextremismus stellt, aber den migrantischen und muslimischen nicht nur ignoriert, sondern auch noch hofiert, macht sich in meinen Augen unglaubwürdig und verlogen. Die Milli-Görüs-Bewegung steht Erdogans AKP ideologisch sehr nahe. Erdogan und seine wichtigsten Mitstreiter sind in der Milli-Görüs-Bewegung sozialisiert. Die AKP ist eine islamistisch-faschistische, homophobe, sexistische und antisemitische Partei, die in der Türkei Andersdenkende wegsperrt und in Syrien Jihadisten unterstützt.

Wie erklären Sie sich dann eine solche Nominierung?

Toprak: Leider scheinen die Grünen in Bielefeld und Umgebung von diesen Dingen keine Ahnung zu haben oder sie blenden all das aus ideologischen und opportunistischen Gründen aus. Das Problem aller demokratischen Parteien besteht darin, dass sie den Islam kaum bis gar nicht kennen, was sie auch selber wissen, und von daher jeden Konflikt mit den orthodoxen Verbänden und Moscheen scheuen. Hinzu kommt die Angst, mit Kritik am politischen Islam in einen Topf mit Rechtspopulisten geworfen zu werden. Im übrigen waren die Grünen als Partei schon mal sehr viel weiter, was ihr Verhältnis und ihre Kritik zum orthodoxen Islam anbetrifft. Ich zitiere aus dem Bundestagswahl-Programm vom Mai 2009 unter der Überschrift „Islam gleichstellen – Islam integrieren“: „Von allen religiösen Organisationen, die eine vertiefte Kooperation mit dem Staat anstreben, erwarten wir, dass sie sich für die Verwirklichung der Menschenrechte einsetzen. Wir begreifen die islamischen Organisationen schon jetzt als Teil der deutschen Zivilgesellschaft und verbinden unsere Unterstützung für die Gleichberechtigung mit Erwartungen an die gesellschaftliche Verantwortung der Verbände und Vereine. Wir erwarten von ihnen ein aktives Eintreten für die Religionsfreiheit von Nicht-Muslimen, für die Freiheit des Religionswechsels und für volle Selbstbestimmungsrechte der Frauen. Wer eine Frau oder ein Mädchen unter Druck setzt, dass sie ein Kopftuch oder bestimmte Kleidung trägt oder nicht trägt, verletzt ihr Recht auf Selbstbestimmung…“.

Hier wird in erfreulicher Weise eine klare Distanzierung der Islamverbände und Moscheen von der Scharia verlangt, ohne dass das Wort selbst hier fällt. Das ist geradezu revolutionär. Wurde aber von den Grünen nicht in die konkrete Alltagspolitik übernommen. In Bielefeld sollte der Kreisverband dem Kandidaten, der im Moment im Zentrum der Kritik steht,genau die 2009 formulierten Prüfsteine vorlegen. Die Partei sollte ihn fragen, ob er öffentlich erklärt, dass jeder Muslim und jede Muslimin das Recht hat beziehungsweise haben soll, ohne jede Einschüchterung den Islam zu verlassen, und dass er jeder Muslimin das Recht zugesteht, auch einen Nicht-Muslimen zu heiraten oder einen Menschen des gleichen Geschlechts. Hiermit ist die Frage nach der Gültigkeit der Scharia angesprochen. Und diese Frage muss ab sofort im Mittelpunkt des Umgangs der Grünen mit Muslimen sein, die in die Partei eintreten wollen, aber auch mit Moscheen und Islamverbänden, die auf kommunaler oder staatlicher Ebene als Gesprächspartner oder Vertragspartner angesehen werden wollen. Denn die Scharia ist, mehrfachen Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zufolge, „inkompatibel mit den zentralen Grundsätzen in der Demokratie“. In Bielefeld ist die Lehrerin Birgit Ebel, die auch Mitglied der Grünen ist, nach meiner Kenntnis die einzige, die diese Position konsequent vertritt, die letztlich auch zurückgeht auf ein grünes Programm. Aber anstatt von ihrer Expertise zu partizipieren, wird sie für emanzipatorische Werte in eine rechte Ecke gestellt. Das ist zutiefst beschämend für die Grünen und alle anderen linken Gruppen in Bielefeld und Umgebung. Birgit Ebel genießt die volle Solidarität aller säkularen und progressiven Migranten. Während linke Parteien sich auf die Seite von rechten Migranten stellen. Das ist der Grund warum ich mich bereits Ende 2011 von den Grünen verabschiedet habe.

Ist eine Partei wie die Grünen in Bielefeld wählbar, wenn Sie so einen Kandidaten aufstellt?

Toprak: Jede Stimme für die Grünen in Bielefeld ist im Moment eine Stimme für den türkischen Nationalislamismus.

Selvet Kocabey soll in einer Mitgliederversammlung der Grünen glaubhaft versichert haben, zu den Werten der Partei zu stehen. Zudem sei er von allen seinen Ämtern zurückgetreten. Also kann man ihn doch wählen, oder?

Toprak: Kocabey trat erst von seinen Funktionen zurück, nachdem Kritik in der Presse auftauchte und nach seiner Wahl am 13. Juni in der Stadthalle, bei der er in Abwesenheit gewählt wurde, wobei er in der Partei insgesamt kaum bekannt ist. Er trat wegen zu erwartender Arbeitsbelastung zurück, nicht um sich inhaltlich zu distanzieren. Er gehört also weiterhin zu IGMG, zur Hicret-Moschee, und ist darüber hinaus ja auch noch der stellvertretende Sprecher des Bündnisses islamischer Gemeinden Bielefeld (BIG), die sich wiederholt gegen den Vorsitzenden des Bielefelder Integrationsrates Ali Mehmet Ölmez wandten, dessen Rücktritt fordern, ihm mit Verleumdungsklagen drohten und eben das machen, was man von ultrakonservativen Islamverbänden kennt. Sie versuchen Kritik zu unterdrücken, Kritiker zu diffamieren und auch einzuschüchtern. Dass die Bielefelder Grünen an diesem Punkt nicht erkennen, dass sie hier ein hausgemachtes Problem haben, indem sie einen IGMG-Vertreter über Jahre hinweg nicht verhindert haben, spricht einerseits für eine Naivität und Unkenntnis des politischen Islams, seiner Strategie und Absichten, eine halbherzigen Einstellung zur Integrationspolitik, mit der sie sich gerne schmücken, und für Opportunismus. Dieser Kandidat kann nicht mehr durch einen anderen Grünen ersetzt werden, dafür ist es im Verfahren zu spät. Die Grünen wollten es aussitzen und nun müssen sie damit leben, dass man ihnen diese ignorante Einstellung vorwirft.

In Bielefeld leben Menschen aus 160 Nationen. Der Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund ist in Bielefeld zwischen 2012 und 2016 um drei Prozentpunkte auf 36 Prozent angewachsen und liegt bei 38,2 Prozent der 340.000 Bielefelder. Nach einer Studie, die die Stadt in Auftrag gegeben hat, hat jeder dritte Bielefelder einen Migrationshintergrund. Dennoch sitzen nur eine Handvoll Politiker mit türkischen und kurdischen Wurzeln im Stadtrat. Machen Sie derlei Beobachtungen auch in anderen Städten?

Toprak: Ja, leider. Die politische Partizipation von Menschen mit Migrationsbiografie ist leider viel zu gering. Das muss sich schnell ändern. Wir sind zwar längst eine Einwanderungsgesellschaft, aber das spiegelt sich nicht in unseren Parlamenten wider. Für eine demokratische Gesellschaft ist es nicht gut, wenn über einen längeren Zeitraum wichtige Teile der Gesellschaft aus der demokratischen Mitgestaltung ausgeschlossen sind. Das führt dazu, dass sich diese Menschen nicht mit unserem Gemeinwesen und unseren demokratischen Werten und Institutionen identifizieren und sich dauerhaft in Parallelgesellschaften einrichten oder im schlimmsten Fall sogar in Gegengesellschaften sich gegen unser Land und unsere freiheitlichen Werte in Stellung bringen.

Woran liegt das Ihrer Meinung nach?

Toprak: In dieser Frage haben alle demokratischen Parteien leider versagt. Die konservativen Parteien wollten lange Zeit nicht wahrhaben, dass Deutschland irgendwann de facto zu einem Einwanderungsland geworden ist, auch wenn wir es niemals gewollt haben. Die eher linken Parteien und die liberalen Kreise hingen ewig dem Traum des Multikulturalismus hinterher. Die Union hat sich sehr spät geöffnet, die linken Parteien hingegen sehen die Migranten bis heute in erster Linie als Opfer. Aber auch die Migranten haben sehr lange mit einer Lebenslüge in diesem Land gelebt, nämlich dass ihr Aufenthalt nur vorübergehender Natur sei, und haben sich nicht in aller Konsequenz auf ihre neue Heimat eingelassen. Ich würde auch alle Integrationsräte abschaffen und dafür plädieren, dass die Migranten sich direkt in den Parteien engagieren und sich dort um Mandate bewerben. Integrationsräte bringen in meinen Augen nichts und verfestigen nur die politische Parallelwelt.

Auch über die Stadtbezirke sind Migranten sehr unterschiedlich verteilt. Ihr Anteil ist mit 44,6 Prozent in Sennestadt am höchsten und mit 19,5 Prozent in Dornberg am geringsten. Im größten Stadtbezirk Mitte beträgt der Migrantenanteil 37,4 Prozent. Ein Drittel der Kinder in den Bielefelder Kitas spricht zuhause kein oder kaum Deutsch. An den Schulen ist der Anteil der Kinder mit Zuwanderungsgeschichte sehr unterschiedlich, hat in Sennestadt und Stieghorst inzwischen rund 70 Prozent erreicht. Ein Problem?

Toprak: Es ist kein Problem, wenn wir eine Einwanderungsgesellschaft geworden sind. Aus Vielfalt kann sehr viel Positives entstehen. Aber wenn nicht die richtigen gesellschaftspolitischen Weichen gestellt werden und wir uns nicht als eine Gesellschaft betrachten, wird auf Dauer der gesellschaftliche Zusammenhalt nicht möglich sein. Aber gerade für eine funktionierende Einwanderungsgesellschaft ist dies lebensnotwendig. Wir dürfen nicht zulassen, dass sich Parallelgesellschaften zu Gegengesellschaften entwickeln. Daher müssen wir unbedingt die Entwicklung von Ghettos in Stadtteilen und Bildungseinrichtungen mit aller Kraft verhindern. Bei mir hat die Integration geklappt, weil meine Familie sich nicht von der Mehrheitsgesellschaft separiert hat. Ich habe im deutschen Club Fußball gespielt. Wir haben in Stadtteilen gewohnt, wo der Migrantenanteil geringer war. Also müssen wir auf kommunaler Ebene für eine gute Durchmischung in allen Bereichen sorgen.

Sie gelten als scharfer Kritiker der Ditib-Gemeinden in Deutschland. In Gesprächen sagen Vertreter der Ditib-Gemeinde in Sennestadt häufig: „Wir sind Bielefelder muslimischen Glaubens und wir sind stolz auf das deutsche Grundgesetz, das uns die Möglichkeit gibt, unseren Glauben hier zu leben.” Dann ist ja alles in guter Ordnung, oder?

Toprak: Das wäre schön, wenn das auch glaubwürdig wäre. Es ist leider eine Sache, was Vertreter von Ditib in der Öffentlichkeit von sich geben und was sie davon in der Realität im Alltag auch umsetzen. Nur das Grundgesetz zu loben reicht nicht aus. Man muss die Werte des Grundgesetzes auch im Alltag mit Leben füllen. Man kann zum Beispiel nicht einerseits die Glaubensfreiheit hier in Deutschland loben und andererseits vor der Verletzung der Glaubensfreiheit von Nichtmuslimen in der Türkei schweigen. Kein anderer als der Vorsitzender der Diyanet, der türkischen Religionsbehörde und gleichzeitig Mutterorganisation der Ditib, hat die Kanzel in der Hagia Sophia nach der Umwandlung in eine Moschee mit dem Schwert bestiegen. Was ist das für eine Botschaft an die hiesige Gesellschaft, wenn etliche Imame der Ditib in den vergangenen Freitagspredigten in Deutschland dieses Ritual ihres obersten Imam in der Türkei nachgemacht haben?

Ist jede Ditib-Gemeinde automatisch zu kritisieren? Gibt es gute und böse Ditib-Gemeinden?

Toprak: Natürlich darf man nicht alle Mitglieder in allen Ditib-Gemeinden zu Anti-Demokraten erklären. Es gibt in jeder Ditib-Gemeinde natürlich auch Menschen mit demokratischer Gesinnung. Aber Fakt ist, dass die Ideologie und die Abhängigkeit des Dachverbandes von der Türkei sehr problematisch ist. Immer wieder erleben wir seit Jahren verstärkt nationalislamistische Ausfälle in Ditib-Gemeinden. Seit Jahren weisen viele türkeistämmige Demokraten darauf hin, dass der größte Islamverband Ditib, der der staatlichen türkischen Religionsbehörde unterstellt ist, nicht die Aufgabe hat, die Muslime zu integrieren, sondern die Interessen des türkischen Staates auf deutschem Boden zu vertreten. Deshalb werden jeden Freitag, auch in Ostwestfalen-Lippe, deutschlandweit Predigten aus Ankara verlesen. So werden die Muslime Woche für Woche aus Ankara indoktriniert – und ihnen wird eingeimpft, wohin sie mental gehören: Nicht hierhin, sondern in die Türkei.

Zur Person

Ali Ertan Toprak (51) ist Präsident der Bundesarbeitsgemeinschaft der Immigrantenverbände in Deutschland (BAGIV), Bundesvorsitzender der Kurdischen Gemeinde Deutschland und Mitglied des CDU-Bundesfachausschusses Gesellschaftlicher Zusammenhalt sowie Mitglied des CDU-Bundesnetzwerks Integration. Ali Ertan Toprak war viele Jahre Mitglied bei Bündnis 90/Die Grünen, ehe er 2014 der CDU beigetreten ist. Der 51-Jährige gilt als Experte beim Thema Integration der Muslime in Deutschland. Ebenso ist er bekannt als scharfer Kritiker der Ditib-Gemeinde in Deutschland.

Kommentar zum Fall Kocabey.

Wie der Fall Kocabey öffentlich wurde.

Die Grünen und ihr umstrittener Kandidat.

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