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Während manche die Corona-Regeln umgehen und in Gruppen feiern, versorgen Pfleger schwerkranke Menschen

Keine Zeit für Weihnachten

Bielefeld

„Wir sind nicht ihre Familie, aber wir sind bei ihnen“, sagt Intensivpfleger Kilian Heinze (42). Er spricht über die Menschen, die auf der Intensivstation des Städtischen Klinikums Bielefeld liegen und dort an Corona sterben – isoliert und ohne Angehörige, weil aus Infektionsschutzgründen kein Außenstehender in die Isolierzimmer darf. „Trotzdem sterben die Menschen hier unter würdigen Bedingungen.“

Christian Althoff

Ein Corona-Intensivpatient inmitten der Technik, die ihn retten soll. Foto: Althoff

Vor 22 Jahren fand Kilian Heinze in diesen Beruf, heute ist er Pflegedienstleiter der Intensivstation. Er hat eine Frau und eine Tochter, aber die beiden werden Heiligabend ohne ihn verbringen. Auch die Familie von Pfleger Gerrit Kobow (59) wird alleine unter dem Weihnachtsbaum sitzen. Die beiden Krankenpfleger gehören zu der Mannschaft, die sich über die Feiertage im Klinikum Bielefeld in drei Schichten um 33 Corona-Patienten kümmern wird. 15 dieser Patienten liegen auf der Intensivstation, zwölf werden beatmet.

Engmaschige Überwachung 

Auf der Isolierstation 3.1 werden Menschen versorgt, die positiv getestet wurden, aber keine schweren Symptome zeigen. Ins Krankenhaus kamen die meisten von ihnen nicht wegen Corona, sondern wegen anderer Krankheiten. Doch selbst diese leichteren Corona-Fälle brauchen eine engmaschige Überwachung. Gerrit Kobow: „Wir messen mindestens zweimal pro Schicht die Temperatur und die Sauerstoffsättigung des Blutes.“ Gerade die Sauerstoffsättigung könne sich bei Corona-Patienten schlagartig ändern, sagt der 59-Jährige. „Das erleben wir fast jeden Tag. Dann muss gehandelt werden.“ Denn ein schlechter Wert könne ein Zeichen beginnender Atemprobleme sein.

Die schwereren Corona-Fälle liegen auf der Intensivstation 1.3. „Fast alle haben auch noch andere Krankheiten wie Herz- oder Lungenleiden oder eine schwere Operation hinter sich“, sagt Heinze. Die meisten lägen in einem künstlichen Tiefschlaf und würden beatmet. Der Pfleger hat schon manchen Winter mit Influenza-Wellen und vollen Stationen mitgemacht. Aber die Versorgung von Corona-Patienten, sagt er, sei noch mal „eine ganz andere Hausnummer“ für die Pflegekräfte – psychisch, aber auch körperlich.

Arbeit unter Infektionsschutzbedingungen

Dass Corona-Patienten mindestens zweimal am Tag gewendet werden, kennen viele Menschen aus dem Fernsehen. Aber wer weiß schon, dass das jeweils etwa eine Stunde dauert? „Wenn ein Patient auf dem Rücken liegt, werden untenliegenden Teile seiner Lunge plattgedrückt und nicht mehr richtig durchblutet“, erklärt Kilian Heinze. Deshalb würden Corona-Patienten abwechselnd in Bauch- und Rückenlage gebettet. „Je nach Gewicht des Patienten brauchen wir dafür zwei bis drei Pfleger und einen Arzt.“ Die Menschen seien ja nicht nur beatmet, sie hätten auch einen Blasenkatheter, eine Zentralen Venenkatheter und weitere Zugänge, etwa zur permanenten Blutdruckmessung in einer Arterie. „Das Umdrehen des schlafenden Patienten muss also sehr vorsichtig und langsam geschehen.“ Der Arzt stütze dabei den Kopf und die Halswirbelsäule, und er überwache die Beatmung. „Liegt der Patient in der neuen Position, müssen wir tasten und schauen, dass es nirgendwo drückt, weil er sonst Geschwüre bekommen kann. Manchmal verhindern wir das mit zusätzlichen Polstern.“ Dazu kämen viele andere Aufgaben an den Corona-Patienten, etwa die Wundversorgung bei frisch Operierten.

Die gesamte Arbeit findet unter Infektionsschutzbedingungen statt. „Wir tragen eine Haube, ein Gesichtsschild, mindestens eine FFP2-Maske, Handschuhe und einen Einweg-Kittel, der kaum atmungsaktiv ist. Wir schwitzen, und die Brillenträger haben mit beschlagenen Gläsern zu kämpfen.“

Arbeit unter solchen Bedingungen habe es schon immer in Krankenhäusern gegeben, sagt der Bielefelder, aber eben nicht über Monate und nicht mit so vielen Kranken. „Im Moment werden bei uns jeden Tag zwei, drei neue Corona-Patienten aufgenommen.“ Und deren Verfassung belaste die Pflegekräfte oft auch psychisch. „Wenn wir einem Patienten oder seiner Familie sagen, dass wir ihn auf die Intensivstation verlegen müssen, macht das ganz viel mit den Menschen“, sagt der 42-Jährige. „Die Leute haben im Frühjahr die Bilder aus Bergamo gesehen und sie wissen, dass im Durchschnitt 20 bis 30 Prozent der Corona-Patienten auf den Intensivstationen sterben.“ Kranke und Angehörige seien verunsichert und hätten viele Ängste und Fragen. „Die beantworten wir natürlich, soweit wir das können, obwohl uns eigentlich die Zeit dafür fehlt.“ Oft sei deshalb am Ende einer Schicht noch nicht alles erledigt. „Dann arbeitet man weiter, weil die nachfolgenden Kollegen sonst nicht mehr hinterherkämen.“

Verantwortungsbewusst Weihnachten feiern

Trotz aller ärztlichen Bemühungen, trotz aller Pflege verliere man jede Woche Patienten, sagt Kilian Heinze. „Wir sind es dann manchmal, die den Angehörigen sagen müssen, dass ihr Bruder, ihre Mutter oder ihr Kind sterben werden, aber dass sie nicht kommen dürfen.“

Er wisse zwar nicht, was in sedierten Patienten vorgehe, aber er nehme an, dass diese Zeit für die Familien schlimmer sei als für die Sterbenden. „Natürlich ist es für viele unfassbar, sich nicht verabschieden zu können. Aber das ist unter den gegebenen Umständen nicht anders möglich. Das Wagnis können die Krankenhäuser nicht eingehen.“ Die Reaktionen seien unterschiedlich, sagt der Pfleger. „Wie erleben alles: Wut, Ärger, aber auch Verständnis.“

Die Arbeit auf den Corona-Stationen – sie verändert auch das private Verhalten. Kilian Heinze hat seine Großeltern seit Februar nicht mehr besucht, Gerrit Kobow seine Mutter seit vier Wochen nicht mehr gesehen. Die beiden haben kein Verständnis dafür, wenn der eine oder andere jetzt versucht, zu Weihnachten möglichst viele Angehörige zu treffen. „Das macht mich wütend“, sagt Heinze. „Klar ist Weihnachten ein emotionales Fest. Aber es geht jetzt nicht um Kekse und Glühwein, sondern um existentielle Fragen.“ Die Quittung für Familientreffen, so fürchtet er, werde es im Januar geben.

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