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Mord am Bielefelder Kadir A.: Staatsanwaltschaft klagt Pärchen aus Hannover an

Mit mehr als 100 Stichen umgebracht

Bielefeld (WB). Nach dem Rachemord am Bielefelder Kadir A. (28) in Hannover hat die dortige Staatsanwaltschaft Anklage zum Schwurgericht gegen Tanja W. (25) und ihren Freund Emre A. (24) erhoben. Das psychisch kranke Pärchen soll den jungen Supermarktverkäufer gemeinsam heimtückisch mit mehr als 100 Stichen und Schnitten in der Wohnung von Emre A. in Hannover-Kirchrode umgebracht haben.

Jens Heinze

Gärtner fanden auf diesem Friedhof in Hannover-Kirchrode am 15. April die Leiche von Kadir A. halb verscharrt auf einem eingeebneten Grab. Foto: dpa

Die Tatwaffe, ein japanisches Tanto-Kampfmesser mit 30 Zentimeter langer Klinge, und Gegenstände des Bielefelders wie sein Rucksack sollen Tanja W. und Emre A. entsorgt haben. Die Sachen wurden nie gefunden. Das Paar wurde dabei gefilmt, wie es nach dem Mord mit einem Rollkoffer in einen Zug nach Hamburg steigt und ohne Koffer zurück kommt.

Das Mordmotiv soll Rache für eine Vergewaltigung sein. Die 25-Jährige hatte den Bielefelder im Internet kennen gelernt. Später behauptete Tanja W., von Kadir A. beim Bielefeldbesuch im Februar 2019 missbraucht worden zu sein. Anzeige erstattete die Frau aber erst im Herbst vergangenen Jahres, als sie ihren neuen Freund Emre A. kennengelernt hatte.

Der Vergewaltigungsvorwurf erwies sich als haltlos. Ermittler hatten starke Zweifel an der Aussage der 25-Jährigen, die wirr und nicht schlüssig gewesen sein soll. Im Januar diesen Jahres stellte die Staatsanwaltschaft Bielefeld das Ermittlungsverfahren ein.

Der Mordanklage zufolge wollten sich die 25-Jährige und ihr neuer Gefährte an Kadir A. wegen der Vergewaltigung, die es nach Auffassung von Kripo und Justiz nie gegeben hatte, rächen. Die Frau nahm erneut Kontakt zum Bielefelder auf, sagte Erste Staatsanwältin Kathrin Söfker, Sprecherin der Staatsanwaltschaft Hannover. Offenbar wurde der 28-Jährige gezielt in eine Falle gelockt. „Kadir A. hat nie erfahren, dass gegen ihn eine Vergewaltigungsanzeige erstattet worden war. Er ist völlig arglos nach Hannover gefahren und wurde dort abgemetzelt“, sagte Pascal Ackermann, der Anwalt der Opferfamilie.

Am 5. April fuhr der Verkäufer nichts ahnend mit dem Zug in die niedersächsische Landeshauptstadt. Tanja W. soll den 28-Jährigen abgeholt und in die Wohnung ihres neuen Freundes im Hannoveraner Stadtteil Kirchrode gebracht haben. Dort soll es zum Messer-Mord mit mehr als 100 Stichen und Schnitten gekommen sein. „Kadir A. bekam unter anderem einen Stich ins Herz“, berichtete Erste Staatsanwältin Kathrin Söfker von einem „hochgradigen Blutverlust“ des Opfers.

Die Leiche des Bielefelders wurde zehn Tage später halb verscharrt auf einer eingeebneten Grabstelle von Gärtnern auf dem Friedhof Hannover-Kirchrode gefunden. Tanja W. (25) und ihr Freund Emre A. (24) sollen den Ermordeten mit einem großen Rollkoffer dort hingebracht haben. Die Wohnung des 24-Jährigen, wo sich das Kapitalverbrechen abgespielt haben soll, liegt etwa 300 Meter vom Friedhof entfernt.

Das tatverdächtige Paar sitzt seit Anfang Mai in Untersuchungshaft. Polizisten einer Mordkommission kamen den Angeklagten über eine sogenannte Umfeldermittlung auf die Spur. Beim Abgleich von Daten aus der Umgebung des Leichenfundorts entdeckten die Kripofahnder die Strafanzeige von Tanja W. wegen des Verdachts der Vergewaltigung durch Kadir A. Außerdem war ein brisanter Einsatz von Polizei und Rettungsdienst vom Tattag am Ort des Mordgeschehens dokumentiert.

Tragische Polizeipanne überschattet die Mordermittlungen

Der Mord an Kadir A. wird von einer Polizeipanne überschattet. Wie Rechtsanwalt Pascal Ackermann auf Anfrage bestätigte, waren am Tattag zwei Streifenwagenbesatzungen an dem Ort, wo der Bielefelder abgestochen worden war. Eine Nachbarin hatte Schreie aus der Wohnung des mutmaßlichen Mörders gehört und den Notruf 110 gewählt. Der Mann (24), der Kadir A. umgebracht haben soll, hatte wegen einer Schnittwunde an einer Hand zeitgleich den Rettungsdienst alarmiert. Er habe sich bei Samurai-Übungen mit einer Stichwaffe selbst verletzt, soll der 24-Jährige gesagt haben. Die Polizisten ließen sich abwimmeln und schauten nicht am Tatort, einer Wohnung im Obergeschoss, nach. Dort soll der Ermordete gelegen haben. „Die Familie des Opfers ist entsetzt, dass es zu solch einer katastrophalen Panne kam“, sagte Anwalt Ackermann im Namen der Angehörigen.

Das Paar wurde am 6. Mai verhaftet und behauptete, den Bielefelder in Notwehr getötet zu haben. Tanja W. und ihr Freund Emre A. sollen an Autismus erkrankt sein. Die mutmaßlichen Täter lebten in Wohnungen einer Behinderteneinrichtung und standen unter gesetzlicher Betreuung. Ob sie voll schuldfähig sind, soll ein Gutachter beim voraussichtlich im November vor dem Schwurgericht in Hannover beginnenden Prozess klären.

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