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Bielefelder Konfliktforscher Andreas Zick über kulturelle Einflüsse auf die Corona-Pandemie

„Nicht die ‚Migrationskarte‘ ziehen“

Bielefeld (WB). Zuletzt haben sich Berichte über türkische Großhochzeiten gehäuft, bei denen die Corona-Regeln nicht eingehalten wurden und nach denen die Infektionszahlen in den betroffenen Städten stark anstiegen. Zu nennen sind Vorfälle in Hamm, Dortmund und Berlin. Welche Folgen hat das für die Gesellschaft? Werden Vorurteile geschürt? Oder erreichen Behörden manche Bevölkerungsgruppen nicht? Darüber hat Andreas Schnadwinkel mit Prof. Dr. Andreas Zick, Leiter des Instituts für Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) der Universität Bielefeld, gesprochen.

Andreas Zick forscht an der Universität Bielefeld. Foto: dpa

In Hamm war eine türkische Großhochzeit die Ursache eines Corona-Infektionsausbruchs, in Bielefeld soll die Feier einer Familie tamilischer Herkunft für einen Anstieg der Zahlen gesorgt haben. Sehen Sie die Gefahr, dass das Infektionsgeschehen mit Menschen mit Mi­grationshintergrund oder aus anderen Kulturkreisen in Verbindung gebracht werden kann?

Andreas Zick : Das ist leider schon direkt passiert, als die Pandemie uns im März erreicht hat. Mit Beginn der Pandemie gab es Vorfälle von vorurteilsgeleiteten Hasstaten gegen Menschen, die asiatisch aussehen, es gab „Hate Speech“ gegen Migranten im Internet. Bei den Demonstrationen gegen die Corona-Regeln tauchten antisemitische wie mi­grationsfeindliche Symbole und Äußerungen auf. Im Zuge der Konflikte von jungen Menschen mit der Polizei in Stuttgart und Frankfurt im Juni, an denen auch junge Erwachsene mit Migrationsgeschichte teilgenommen haben, gab es direkt Diskussionen darüber, ob die Herkunft eine Rolle spielt. Mittlerweile gibt es in vielen Ländern, auch Deutschland, Studien dazu, die belegen, dass auch diese Pandemie Vorurteile weckt.

Wieso „auch diese Pandemie“?

Zick : Es gibt aus früheren Forschungen zu Pandemien und Naturkatastrophen viele Hinweise, dass Menschen Krankheiten, ökonomische Krisen und Konflikte schnell auf Migration, also Einwanderung zurückführen. Das war bei der Vogelgrippe so, bei Seuchen und der Pest. Die Fremden werden verantwortlich gemacht. Ist dieses Vorurteil einmal gebildet, werden dann Informationen wie Feste von Familien mit Mitgliedern, die eine Migrationsgeschichte haben, besonders wahrgenommen, und die Geschichten dienen der Bestätigung. Die vielen anderen Fälle von Ansteckungen durch die sogenannten Superspreader, also ursprünglich infizierte Personen, auf Jubiläumsfeiern, Geburtstagsfeiern in Gaststätten, werden nicht wahrgenommen oder ausgeblendet. Zudem werden bestätigende Informationen wie Bilder von „Großfamilien“ und „Clans“ dazu genommen, auch wenn das Ansteckungsereignis nichts mit Herkunft oder Kultur zu tun hat.

Aber es lässt sich doch nicht daran deuteln, dass diverse türkische Hochzeiten bundesweit zu höheren Infektionszahlen geführt haben, oder?

Zick : Das heißt nicht, dass es auf deutsch-türkischen Großhochzeiten nicht passiert und dass in bestimmten gesellschaftlichen Gruppen große Feste eine besondere Tradition haben. Aber es ist heute auch ein Geschäftsmodell jenseits aller Kultur, es ist ein Teil unserer neuen Kultur. Und nicht zuletzt waren Après-Ski-Events und große Feiern in Clubs und Diskos mindestens so wichtig, ohne dass wir nach Kultur gefragt haben.

Ganz offensichtlich sind manche Gruppen, wie die Verstöße bei einigen Großhochzeiten zeigen, nicht bereit oder in der Lage, sich an die Corona-Regeln zu halten. Werden diese Gruppen sprachlich, kulturell oder medial nicht erreicht? Und wenn doch, sind diesen Gruppen diese Regeln egal? Sind das Beispiele für Desintegration und Parallelgesellschaft?

Zick : Sie nennen einen sehr wichtigen Punkt, der für den Schutz besonders wichtig ist. Wir müssen fragen, ob die Kommunikation funktioniert und die Informationen so gestaltet sind, dass alle sie verstehen und sie auch in Verhalten münden lassen können. Wir haben sehr gute Erfahrungen in Deutschland mit der Vermittlung von Normen, Werten und Regeln an die unterschiedlichen kulturellen Gruppen. Zwei Jahre nach der berüchtigten Kölner Silvesternacht 2015/2016 haben wir die Kölner Polizei ermuntert, die Regeln für die Nacht in vielen Sprachen und einfacher Sprache zu vermitteln, und es hat gut geklappt. Vermitteln wir aber Gruppen Corona-Regeln und zugleich, dass wir sie verdächtigen, dann signalisieren wir wieder einmal: Ihr gehört nicht dazu. Das ist in Pandemiezeiten, wo es auf den Zusammenhalt aller ankommt, fahrlässig. Es trifft viele Gruppen. Alte, die nur als Risikogruppe beurteilt werden, Junge, die als fahrlässig bezeichnet werden und so weiter. Selbstverständlich ist für die beste Prävention zu prüfen, ob das Regelverständnis vorhanden ist. Nur sehen wir ja gerade, dass die Regeln sich nach Bundesland, nach Kommunen, nach Einrichtungen unterscheiden. Kulturen unterscheiden sich nach Werten und nach Normen, nur gerade bei der jetzigen Pandemie gelten weltweit dieselben Grundregeln, und die sind bei aller Vielfalt zum Glück weltweit verständlich. Daran sollten Gesellschaften anknüpfen und Regelverweigerung ernst nehmen. Die ist aber angesichts von Gruppen, die die Pandemie leugnen, eine andere Baustelle.

Wenn ein Lockdown wegen des Verhaltens von Menschen mit Migrationshintergrund droht, begünstigt das die gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit?

Zick : Nehmen insbesondere Menschen, die bereits Vorurteile gebildet haben, den Lockdown als überzogen oder ungerechtfertigt wahr und teilen das mit anderen, die sich als Gruppe verstehen, dann steigt sofort die Wahrscheinlichkeit feindseliger Gefühle, Gedanken und Verhaltensweisen gegen Minderheiten. Insbesondere, wenn der Lockdown als illegitime Freiheitseinschränkung oder gar Angriff interpretiert wird, steigt die Motivation, die selbstdefinierte Freiheit aggressiv wiederherzustellen und Gruppen zu finden, die vermeintlich verantwortlich sind. Dazu holen sie Vorurteile hervor, die sie mit anderen teilen. In unseren „Mitte-Studien“ im Jahreswechsel 2018/2019 haben wir festgestellt, dass viele Menschen vor der Pandemie Verschwörungsideen glaubten. Jede zweite Person der bevölkerungsrepräsentativen Umfrage meinte, sie glaube eher ihren Gefühlen als Experten. Viele zeigten ein geringes Vertrauen in die Regierung. Diese Überzeugungen und Gefühle sind in der Pandemie eine Vorbedingung für eine aufgeheizte Atmosphäre. Erschwerend kommt dazu, dass sofort Verschwörungsgruppen auf verunsicherte Personen in sozialen Netzwerken Einfluss genommen haben. Am Ende bestimmen dann die Feindbilder die Reaktion auf den Lockdown. Die Abwertung von anderen schafft dann Zugehörigkeit, vermeintliche Kontrolle und gibt ein trügerisches Gefühl von Sicherheit. Sind die „Anderen“ erst unter Kontrolle oder weg, dann ist das alles nicht so schlimm.

Auch wenn die Behörden die Herkunft oder den Hintergrund der Personen nicht nennen, die aufgrund ihres Verhaltens für einen Infektionsausbruch sorgen, so gehen manche Leute in der Regel davon aus, dass es sich um Menschen mit Migrationshintergrund handelt. Sollte hier transparenter informiert werden? Oder würde das Vorurteile und Klischees fördern?

Zick : Wir müssen uns erstmal genau darüber verständigen, was wir mit Migrationshintergrund meinen, also wann wir eine Person in die Gruppe derjenigen einordnen, bei der die Migration einen Einfluss darauf nimmt, was sie oder er denkt, fühlt oder wie die Person handelt. Menschen, die in diesem Land aufgewachsen sind oder seit vielen Jahren hier leben, haben hier Prägungen erhalten, die vielleicht nichts mehr mit dem Migrationshintergrund zu tun haben. Sicherlich spielen Kultur und Traditionen eine Rolle, aber so einfach ist das nicht. Wir müssen viele mögliche Erklärungsfaktoren berücksichtigen und nicht vorschnell auf Herkunft oder Migration schließen. Große Familienfeiern spielen in der Türkei eine sehr große Rolle. Aber das ist in anderen Kulturen wie auch hier im ländlichen Raum ebenso wichtig. Über die Kultur identifizieren sich Menschen, und dann ist diese Identifikation wichtiger als Migration. Hinter den Ansteckungen kann noch ein ganz anderer Faktor stecken. Vielleicht wurden die Familienfeiern nicht hinreichend in der Sprache der Gruppen informiert. Wichtig ist dabei auch die Frage, an wem sich die Gruppen orientieren. Hören die Kulturgemeinschaften auf Politiker oder bekannte Epidemiologen aus dem Fernsehen, oder sind ihnen andere Personen wichtiger? Wo Informationen in einfacher und angemessener Sprache vermittelt werden von Menschen, mit denen sich Gruppen wie kulturelle Gemeinschaften identifizieren, läuft es besser. Fühlen sich Menschen nicht als Teil einer Mehrheitsgesellschaft, orientieren sie sich umso mehr an wichtigen Personen in ihrer Gemeinschaft. Das umso stärker, wenn Gemeinschaft und das Motiv Unsicherheiten schnell zu vermindern besonders wichtig sind. Genau das zeigen Studien über Kulturorientierungen in der Türkei. Diese Orientierung an der eigenen Gemeinschaft erklärt auch das Infektionsgeschehen unter deutschen Urlaubern auf Mallorca, oder auch die Unachtsamkeit auf den Demos gegen die Corona-Regeln, oder Hauspartys, die heute noch ungebremst vor allem in Großstädten ablaufen. Dann spielt vielleicht noch die Frage, wie körperliche Nähe kulturell geprägt ist, eine Rolle.

Nach den Sommerferien waren sogenannte Reiserückkehrer maßgeblich für einen Anstieg der Corona-Zahlen mitverantwortlich. Sie kamen aber mehrheitlich nicht aus Mallorca, sondern aus dem Kosovo, Albanien, der Türkei und Bosnien-Herzegowina. Ein Kommentar in der „Frankfurter Allgemeine Zeitung” war überschrieben mit „Corona mit Migrationshintergrund”. Halten Sie es für falsch, die Tatsachen so zu benennen?

Zick : Wenn ich so etwas lese, stelle ich mir die Frage, was das soll. Wird hier ein einfaches Bild in den Raum gestellt, um die Aufmerksamkeit der Leser zu bekommen? Wissenschaftlich machen solche Schlagzeilen keinen Sinn. Aus Sicht der Migrations- und Vorurteilsforschung sind sie auch ärgerlich und erklären am Ende rein gar nichts, wenn dann nicht genau erläutert wird, wie die Pandemie aus den sehr unterschiedlichen Ländern weitergetragen wird. Es sind in der Regel nicht Gruppen oder Migranten, die Träger sind, sondern Personen, die Kontakt zu anderen hatten, die keine hinreichende Prävention erfahren haben. Es kommt nicht über Migration, sondern die Reisen. Interessant ist die genaue Analyse der Herkunftsländer, weil sich zeigt, dass es bestimmte Gebiete sind, wo der Schutz nicht funktioniert. Den Migrationsfaktor hier bestimmten Gruppen zuzuschreiben, mag Vorurteile bestärken, erklärt wissenschaftlich aber nichts. Was wäre geschrieben worden, wenn in Griechenland die Zahlen hoch gewesen wären? Das Gegenteil ist der Fall, und nun reisen wir dorthin und bauen darauf, nicht in Generalverdacht genommen zu werden. Nein, wir dürfen die „Migrationskarte“ gerade in Pandemiezeiten nicht so schnell ziehen. In Ländern, wo Vorurteile und vorschnelle Verantwortungen Gruppen zugeschoben werden, gibt es massive Unruhen. Wir sollten uns vor solchen verzerrten Schablonen besser schützen.

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