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Beamte befragt um Behördenpannen aufzuklären

Missbrauchsfall Lügde: Bielefelder Polizisten vor Untersuchungsausschuss

Düsseldorf

Einen kleinen Einblick in das Seelenleben eines Polizisten, der 2019 den Missbrauchsfall Lügde mit aufgeklärt hatte, haben am Dienstagabend (28. Februar) die Landtagsabgeordneten im Untersuchungsausschuss „Kindesmissbrauch“ bekommen.

Hauptkommissar Norbert Freier saß am Dienstagabend als Zeuge vor dem Untersuchungsausschuss in Düsseldorf. Foto: Althoff

Der Ausschuss will Behördenpannen im Fall Lügde auf den Grund gehen, um sie für die Zukunft möglichst auszuschließen.

„Es gab einen Punkt, an dem ich private soziale Kontakte wegen der ständigen Vorwürfe abgebrochen habe“, sagte Kriminalhauptkommissar Norbert Freier (61).

Fast drei Stunden befragten die Abgeordneten den Bielefelder Kriminalbeamten als Zeugen. Er war 2019 der Aktenführer der Ermittlungskommission „Eichwald“ – benannt nach dem Campingplatz, auf dem Kinder über Jahre missbraucht worden waren.

Was ist ein Aktenführer?

Die Kreispolizei Lippe hatte im Fall Lügde fast drei Monate ermittelt, als das Polizeipräsidium Bielefeld im Januar 2019 von der Missbrauchsserie erfuhr. Es bestand damals zwar keine Verpflichtung für die Lipper, eine andere Behörde um Unterstützung zu bitten. Aber das Ausmaß des Falls überforderte die kleine Behörde in vielerlei Hinsicht. So ließ sie wegen Personalmangels ein vergewaltigtes Mädchen von einer Streifenbeamtin ohne entsprechende Ausbildung befragen.

„Ich habe von dem Fall aus dem Fernsehen erfahren“, sagte Norbert Freier auf die Frage des Ausschussvorsitzenden Dietmar Panske (CDU). Die Polizei Lippe habe auf einer Pressekonferenz von 20 Opfern und 1000 Taten gesprochen.

Thorsten Stiffel (r.) und Aktenführer Norbert Freier leiteten die Ermittlungskommission „Eichwald“. Foto: Althoff

Das Landeskriminalamt übertrug die Ermittlungen wenig später dem Polizeipräsidium Bielefeld, das die EK „Eichwald“ aufstellte. Freier: „Die Aktenordner, die wir aus Lippe bekamen, füllten zwei Regalmeter.“ Doch damit habe man nicht gut arbeiten können. „Sie waren weder chronologisch noch thematisch strukturier.“

Und: Die Aussagen der Opfer seien nach Angaben seiner Kollegin Sonja Hu­bacher, einer ausgewiesenen Expertin für die Befragung von Kindern, nicht verwertbar gewesen. „Es gab Suggestivfragen, und an einer Vernehmung hatte eine Begleitung teilgenommen, die dem Kind etwas ins Ohr geflüstert hat.“

Berichte ans Innenministerium

Die Akte habe er neu aufgebaut, sagte der Zeuge, und man habe entschieden, die Kinder ein zweites Mal zu befragen. Nach einer Woche hätten die Lipper erklärt, dass ihnen 155 CDs aus dem Besitz des Haupttäters abhandengekommen seien. „Das war verheerend.“ Es sei ein Riesendruck von außen entstanden, sagte Freier. „Wir mussten täglich ans Innenministerium berichten, manchmal mit einer Frist von weniger als zwei Stunden.“

Aus der Kreispolizei Lippe in Detmold verschwanden 155 CDs und DVDs Foto: Althoff

Der EK-Leiter Thorsten Stiffel sei zum Schluss fast nur noch mit Berichten befasst gewesen. „Diese Zeit fehlte uns für die eigentliche Arbeit.“ Zudem habe man sich ständig rechtfertigen müssen, wenn selbsternannte Experten in Medien die Polizeiarbeit kritisiert hätten. „Leute, die das Verfahren gar nicht kannten.“ Das habe ihm und seinen Kolleginnen und Kollegen schwer zu schaffen gemacht.

„Ich habe damals jeden Morgen auf dem Weg zur Arbeit Brötchen geholt. Die Leute, die beim Bäcker Kaffee tranken, sagten: Na, Norbert? Was habt ihr wieder für einen Mist gebaut?“ Auch in seinem privaten Umfeld habe er sich Vorwürfe anhören müssen. „Irgendwann war es genug, und ich habe einige Kontakte abgebrochen.“

Zu dieser Kritik seien die Belastungen durch den Fall gekommen. „Ich habe selbst keine Opfer befragt, aber wenn Sie ein kleines Mädchen sehen, das mit seinem Teddy im Arm aus dem Befragungszimmer kommt – das ist nicht schön.“

Beamte aus ganz NRW zusammengezogen

Die Arbeitsbelastung und die ständigen öffentlichen Anfeindungen hätten dazu geführt, dass Kollegen anderer Behörden morgens bei der Besprechung gesagt hätten, sie würden nicht mehr weitermachen. „Und trotzdem sind alle dabeigeblieben.“ Es seien damals Kriminalbeamte aus ganz NRW in Bielefeld zusammengezogen worden. „Die haben in Hotels gewohnt und ihre Familien nur am Wochenende gesehen.“

Er selbst habe mit einer Kollegin aus Münster zwei Monate lang in einem nahezu fensterlosen Raum „fast bis zum Umfallen“ gearbeitet. „Die Staatsanwaltschaft Detmold hatte uns eine Frist bis Ende April gesetzt, um fertigzuwerden – das waren nur gut drei Monate für so ein Riesenverfahren.“ Man habe zum Schluss zwei Wochen länger gebraucht, aber das sei okay gewesen.

In dieser Hütte hauste der Haupttäter Andreas V, mit seiner Pflegetochter, die ihm das Jugendamt Hameln-Pyrmont anvertraut hatte.. Foto: Althoff

Mitglieder aller Fraktionen dankten Freier und der EK „Eichwald“ nach der Befragung mehrfach für ihre Arbeit. „Sie hat zur rechtskräftigen Verurteilung der Täter geführt“, sagte ein Abgeordneter.

Vor der Befragung dieses Zeugen hatte der Ausschuss den Kriminalbeamten Axel W. aus Bielefeld angehört. Er hatte seinerzeit die Ermittlungskommission geleitet, die mögliche Straftaten von Amtsträgern im Fall Lügde aufklären sollte, also etwa von Polizisten oder Jugendamtsmitarbeitern.

„Der einzige, der uns mit offenen Armen empfangen hat, war Hamelns Landrat Tjark Bartels“, sagte der Polizist. Das Gegenteil habe er im Kreis Höxter erlebt, wo er im Jugendamt ermittelt habe: „Der Kreiskämmerer Gerhard Handermann hat uns wie i-Männchen behandelt. Er wollte uns nicht einmal seine Personalien nennen.“ Axel W. sagte, er habe kurz darüber nachgedacht, eine Ordnungswidrigkeitsanzeige zu schreiben. „Aber die hätte dann ja der Kreis Höxter bearbeitet. Deshalb habe ich mir das geschenkt.“

Hier wuchs die kleine Pflegetochter auf, die über Jahre missbraucht wurde. Foto: Althoff

Dass im Fall Lügde nicht ein einziger Amtsträger vor Gericht gekommen sei, hätten er und seine Kollegen nicht erwartet. „Zumindest in dem Fall, in dem jemand eine Jugendamtsakte manipuliert hatte, waren wir davon ausgegangen.“ Dieses Ergebnis ihrer Arbeit habe Kollegen resignieren lassen.

Der Hintergrund: Eine Jugendamtsakte ist, anders als etwa eine Ermittlungsakte, keine Urkunde. Eine Manipulation verstößt deshalb vielleicht gegen Dienstrecht, nicht aber gegen Strafrecht.

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