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Innenminister Herbert Reul (CDU) über Missbrauch, Kinderpornos, Clankriminalität und Vertrauensverlust – Mit Video

„Polizei muss besser mit Fehlern umgehen“

Bielefeld (WB). Politikverdrossenheit, Clankriminalität, der Fall Lügde – NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) äußert sich im WESTFALEN-BLATT-Interview zu vielen Themen. Mit dem Minister sprachen Christian Althoff, André Best, Andreas Schnadwinkel und Ulrich Windolph.

Nordrhein-Westfalens Innenminister Herbert Reul (CDU) äußert sich im WESTFALEN-BLATT-Interview zu vielen Themen. Foto: Thomas F. Starke

Nach Lügde kam Bergisch Gladbach. Wie weit ist die Polizei in diesem Fall?

Reul: Die Ermittlungskommission in Köln hat bisher 20 Tatverdächtige und 18 Opfer aus Nordrhein-Westfalen identifiziert. Acht Verdächtige aus NRW sitzen in Untersuchungshaft. Außerdem gibt es weitere Tatverdächtige und Opfer in anderen Bundesländern und inzwischen sogar auch im europäischen Ausland. Lügde war ja ein Campingplatz, das war räumlich relativ überschaubar. Der Fall Bergisch Gladbach zeigt uns jetzt, das so etwas auch noch ganz andere Dimensionen haben kann.

Und das hat alles mit einem Handy begonnen?

Reul: Ja. Polizisten wollten bei einem Verdächtigen durchsuchen, aber er war nicht zu Hause. Anstatt dort einzudringen und ihn damit vermutlich zu warnen, haben sie auf ihn gewartet und ihm dann sein Handy abgenommen. Auf dem Telefon fanden sich dann die ersten Querverbindungen in diesem Fall. Ich habe von der Polizei gelernt, dass diese Typen die Sauereien auf dem Handy oder dem Tablet bei sich haben. Die wollen diesen Schmutz jederzeit sehen können.

NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU, links) während seine Besuches beim WESTFALEN-BLATT im Gespräch mit den Foto: Thomas F. Starke

Profitieren die Kölner Ermittler von Erfahrungen im Fall Lügde?

Reul: Auf jeden Fall. Wir haben jetzt einen Zentralrechner, auf dem alle Fotos und Videos gespeichert werden. Auf diesen Rechner können Ermittler aus unterschiedlichen Behörden zugreifen, so dass viel mehr Leute gleichzeitig an einem Fall arbeiten können. Außerdem haben wir im Fall Lügde erstmals eine Bilderkennungssoftware ausprobiert, die Missbrauch auf Fotos erkennen soll. Die funktioniert noch nicht fehlerfrei, aber es ist ein Anfang.Der Fall Lügde hat uns allerdings auch gezeigt, was die Auswertung von Kinderpornografiematerial mit den Ermittlern machen kann. Da habe ich mich schon gefragt: Wie lange darf man das einem zumuten? Wir haben zum Glück neben einem Psychosozialen Dienst auch super Seelsorger, für die ich den Kirchen gar nicht genug danken kann. Ich würde auch gerne noch mehr Polizisten gewinnen für Supervisionsaufgaben, aber ich habe keine frei. Betreuung ist aber nicht nur bei Kinderpornografie nötig. Mir haben Polizisten, die im Dienst verletzt wurden, erzählt, wie sie von Pontius zu Pilatus geschickt wurden. Das haben wir ein Riesenverbesserungspotential.

Polizisten sagen, sie könnten Ihnen schreiben, und Sie würden antworten.

Reul: Stimmt. Aber nicht immer ist die Antwort so, wie der Beamte sie sich wünscht. Ich versuche bei Beschwerden, den Sachen wirklich auf den Grund zu gehen und glaube auch nicht jede Rechtfertigung, die ich aus meinem Haus höre. Übrigens habe ich neuerdings meinen eigenen Blog im Intranet der Polizei, über den ich mich mit den Polizistinnen und Polizisten ganz direkt austausche.

Letztes Jahr haben sie ja eine Onlineumfrage gestartet, um in die Seele der Polizei zu schauen. Wie war die Resonanz?

Reul: Gut. Deutlich mehr als 8000 Polizisten haben teilgenommen, und das wird gerade ausgewertet. Die Kameradschaft bei der Polizei ist ja ein Riesenvorteil für die Zusammenarbeit. Wenn Sie auf Streife sind, müssen Sie sich einfach zu 100 Prozent auf Ihre Kollegin oder Ihren Kollegen verlassen können. Dieser Teamgeist kann aber auch dazu führen, dass man Dinge deckt. Oder dass man zu sehr im eigenen Saft schmort und dann die Kritikfähigkeit nachlässt. Mit der Umfrage wollte ich erreichen, dass die Polizisten mal in sich gehen.

Wir haben dazu ja auch fünf Regionalkonferenzen durchgeführt, bei denen ich mich mit jeweils 100 bis 200 Polizisten aus einer Region zusammengesetzt habe. Die konnten mir dann ihr Herz ausschütten. Das war hochinteressant. Hochinteressant! Es gibt auch in der nordrhein-westfälischen Polizei noch mehr Sachen, die nicht gut laufen. Ist ja auch klar bei 40.000 Polizisten. Ich will ja nur, dass die sagen, wenn was schiefläuft. Da wird es zum Beispiel vermutlich auch noch mehr Rechtsextremisten und Reichsbürger geben. Aber wenn so ein Fall bekannt wird, will ich, dass die Kollegen aus der Dienstgruppe eben nicht darüber hinwegguckt, sondern sagt: Das geht so nicht! Und dann dem Chef Bescheid gibt. Das hat mit Petzen nichts zu tun, das nennt man Fehlerkultur. Das müssen wir jetzt vor allem den jungen Beamten vermitteln.

Sie hatten ja schon Monate vor Bekanntwerden des Falls Lügde dafür gesorgt, dass das Landeskriminalamt für den Bereich Kinderpornografie mehr Personal bekommt. Was war der Auslöser?

Reul: Als ich neu im Amt war, wollte ich alles kennenlernen, und meine Abteilungsleiterin sagte, Sie müssen sich dringend im Landeskriminalamt das Thema Kinderpornografie zeigen lassen. Nachdem die mir das vorgeführt haben, haben mich die Bilder tagelang verfolgt. Ich les’ ja Zeitung und wusste, dass es das gibt, aber wenn man das selber sieht – das ist ein Unterschied. Als dann Lügde passierte, hat es mich nicht unvorbereitet getroffen.

Sie haben sich im LKA Kinderpornos angesehen?

Reul: Ja, klar. Wenn Sie Innenminister sind, dann haben Sie nicht nur angenehme Termine. Die Beamten haben mich gewarnt, aber ich wollte wissen, was die Kinderpornografie-Auswerter im LKA machen. Ich habe dann ein Jahr später auch den ganzen Landtags-Innenausschuss ins LKA geschleppt. Die waren alle betroffen, und einige sind zwischendurch auch rausgegangen.

Ist der Begriff Kinderpornografie angemessen?

Reul: Nein. Eigentlich sollte man den nicht verwenden. Der klingt so verharmlosend, weil Pornografie in unserer Gesellschaft ja inzwischen fast salonfähig ist. Für mich ist das Kindesmissbrauch, auch wenn das juristisch natürlich etwas anderes ist

Für Herbert Reul ist es „ein Drama, dass Polizisten nur deshalb ihre Aufgabe wechseln, damit sie befördert werden können.“ Foto: Thomas F. Starke

Als die Pannen im Fall Lügde bekanntwurden, haben Sie gesagt, selbst ihre Oma hätte gemerkt, dass da was nicht stimmt. Das ist bei der Polizei nicht gut angekommen.

Reul: Das bezog sich vor allem auf die Unterbringung des Pflegekindes auf dem Campingplatz. Wie konnte man solche Fehler machen bei einem so sensiblen Thema? Für mich ist Kindesmissbrauch vergleichbar wie Mord und Totschlag. Das meine ich natürlich nicht juristisch, sondern im übertragenen Sinne: Irgendwie wird diesen Kindern ja auch das Leben genommen. Ich habe mit Frauen geredet, die in ihrer Kindheit missbraucht wurden. Es ist unvorstellbar, was das mit Menschen macht. Da muss man ganz anders mit umgehen. Und wenn es dann Fehler gibt, auch bei der Polizei, dann ist man sauer. Andererseits habe ich eine Riesenhochachtung vor der Polizei Lippe, die das alles aufgearbeitet hat und jetzt neu aufgestellt ist. Die waren mutig und haben geprüft: Was haben wir falsch gemacht? Und: Wie machen wir es in Zukunft besser?

Bis 2019 ist Kinderpornografie in NRW von der Polizei nicht mit besonders viel Elan bearbeitet worden. Wurde zu lange übersehen, dass sich aus Kinderpornoverfahren oft Hinweise auf aktuellen Missbrauch ergeben?

Reul: Ja. Nicht nur die Polizei, die ganze Gesellschaft hat das Thema weggedrückt. Wir hatten ja die Situation, dass ein Polizist einem Anzeigeerstatter gesagt hat: Seien Sie vorsichtig, was Sie sagen, sonst kriegen Sie noch ein Verfahren wegen übler Nachrede an den Hals. Das geht mir nicht mehr aus dem Kopf, weil ich glaube, das war das Denken, das viele hatten. Die ganze Gesellschaft hat das verdrängt, und die geringe Strafandrohung ist auch ein Zeichen dafür, wie wir damit umgegangen sind. Als ich das erkannt hatte, gab es zwei Möglichkeiten: Mich irgendwie durchzulavieren oder nach vorne zu gehen und das zu einem Debatten-Thema zu machen. Sie haben dann natürlich auch die ganzen negativen Nachrichten an der Backe, aber damit wird das Thema groß und wichtig. Wir haben das zu einem Riesenthema gemacht, an dem heute keiner mehr vorbeikommt. Das lässt keiner im Polizeibereich mehr links liegen.

Mit Lügde ist das Thema in den Mittelpunkt gerückt, und damit haben wir auf lange Sicht wahrscheinlich vielen, vielen Kindern geholfen. Ich nehme mal ein anderes meiner Themen, bei dem es so ähnlich war. Häusliche Gewalt. Das wurde woanders viel eher thematisiert als in meiner Partei. Wir standen irgendwie auf dem Standpunkt: Familie – das regeln die schon selber, da mischen wir uns nicht ein. Aber jetzt mischen wir uns in NRW ein. Und das geht soweit, dass wir die Kinder da rausholen.

Wäre es sinnvoll, Kinderpornoermittlungen mit den immensen Datenmengen bei den Kriminalhauptstellen zu bündeln, also in Ostwestfalen-Lippe in Bielefeld?

Reul: Da habe ich noch keine abschließende Meinung zu. Aber meine Stabsstelle hat auch den Auftrag, sich über Strukturen Gedanken zu machen.

Wie viele unbearbeitete Durchsuchungsbeschlüsse in Sachen Kinderpornografie liegen in NRW noch in den Polizeibehörden?

Reul: 478. Letzten Sommer waren es noch weit über 500. Wir sind dran, aber es kommen ja auch immer neue dazu. Je intensiver Sie suchen, desto mehr finden Sie.

Für den NRW-Innenminister gibt es „in der nordrhein-westfälischen Polizei noch mehr Sachen, die nicht gut laufen. Ist ja auch klar bei 40.000 Polizisten.“ Foto: Thomas F. Starke

Allein aus den USA hat Deutschland im vergangenen Jahr 100.000 Hinweise auf Kinderpornokonsumenten bekommen, und nun fordert die GdP, dass auch in Deutschland Plattformbetreiber Kinderpornos melden sollen. Sind wir für diese Verfahrensflut überhaupt aufgestellt?

Reul: Nein. Wie denn auch? Als ich das Amt antrat, war bekannt, dass wir zu wenig Polizisten haben. Simsalabim gibt es nur im Märchenbuch. Im wahren Leben geht das Stück für Stück, und das tun wir. Es gibt aber noch ein weiteres Problem: Wir haben eine starke Unterdeckung im Kripobereich, und das ist nachvollziehbar: Die Landräte und die Polizeipräsidenten wollen, dass die Bürger die Polizei auch sehen. Sicherheitsgefühl hat mit Sichtbarkeit zu tun, und deshalb sind Uniformierte auf den Straßen. Für die großen Probleme brauche ich aber Kripoleute. Bankfachleute, IT-Leute, Ermittlungsspezialisten. Deshalb suchen wir uns jetzt aus jedem Jahrgang 100 Polizeianwärter, die vorher schon eine passende Berufsausbildung gemacht haben. Die wollen wir zusätzlich schulen und ihnen nach der Ausbildung die üblichen zwei Jahre im Wachdienst schenken, damit sie schneller eingesetzt werden können, wo wir sie momentan am dringendsten brauchen. 70 bei der Kripo, 30 beim Verkehrsdienst.

Es kommt immer wieder vor, dass erfahrene Polizisten in andere Arbeitsbereiche wechseln müssen, um befördert werden zu können. Der Leiter der Mordkommissionen Bosseborn (”Horror-Haus Höxter”) und Lügde ist jetzt nach acht Jahren in ein anderes Kommissariat gewechselt, weil er nur so von A 11 nach A 12 befördert werden konnte. Ähnliche Abwanderungen gibt es auch in den Bereichen Wirtschafts- und IT-Kriminalität. Ist das sinnvoll?

Reul: Es ist ein Drama, dass Polizisten nur deshalb ihre Aufgabe wechseln, damit sie befördert werden können. Das ist einfach eine gigantische Vernichtung von Erfahrungswissen. Ich habe meinen Leuten gesagt: Das müssen wir anpacken. Aber das ist schwer. Das System ist 100 Jahre alt. Das können Sie nicht so einfach umbauen. Aber begriffen hab’ ich’s. Und ich werbe überall bei den Behördenleitern dafür, wenn sie die Möglichkeit haben, Alternativen zu finden. Wir brauchen viel mehr Fachkarrieren.

Worauf führen Sie den Vertrauensverlust in die Politik zurück?

Reul: Es hat, glaube ich, auch viel damit zu tun, dass wir von einem Thema zum anderen springen und zum Schluss doch keine Lösung haben. Das treibt die Leute zum Wahnsinn. Die sagen: Das kriegen die ja nicht hin. Gucken Sie sich mal das Thüringer Wahlergebnis an. Das ist doch unvorstellbar! Es gibt keine Mehrheit mehr bei den Demokraten, selbst wenn sich alle zusammentun. Was ist denn da passiert? Eigentlich müsste Politik viel längerfristiger und gründlicher an Themen arbeiten können. Wir müssen versuchen, mehr Linie reinzukriegen.

Ich kann den Leuten dreimal sagen, dass wir die niedrigste Kriminalität seit 30 Jahren haben. Aber sie glauben es trotzdem nicht. Dieses Misstrauen in den Stadt und in die Politik hat sich offenbar in den vergangenen Jahren so verfestigt, das man selbst mit Fakten nicht mehr dagegen ankommt. Deshalb müssen wir Politiker uns dieses Vertrauen wieder zurückerkämpfen. Schritt für Schritt. Das kriegen Sie nicht mit Reden hin. Da müssen sie ein kleines Projekt ankündigen, verwirklichen, und dann das nächste Projekt in Angriff nehmen. Und genauso mache ich das.

Sie dürfen nur das versprechen, was Sie halten können, und Sie müssen transparent arbeiten. Das wird immer wichtiger. Mein Vorstoß, in Polizeiberichten die Nationalitäten zu nennen, wird keinen Kriminalfall lösen. Das weiß ich auch, ich bin ja nicht blöd. Aber es nimmt den Leuten das Material, um weiter Misstrauen zu schüren. Ich merke, dass die Leute anfangen, ein bisschen mehr Vertrauen zu haben. Das geht aber auch nicht mit Simsalabim, das dauert. Wie mit den Clans. Die haben sich hier 30 Jahre lang entwickelt. Neulich wurde mir erzählt: Da hat ein Polizist ein Clanmitglied zur Kasse gebeten, weil der Mann bei Rot über die Ampel gefahren war. Und auf einmal öffnet der Autofahrer einen Schuhkarton voll mit 100-Euro-Scheinen und sagt zu dem Polizisten: Bedien´ Dich!  Dieses Beispiel zeigt: Da gibt es offenbar Bevölkerungsgruppen, die keinerlei Respekt mehr vor dem Staat haben. Das müssen und das werden wir ändern.

Die Opposition kritisiert ja, bei Ihren Clanrazzien komme nicht viel heraus.

Reul: Wenn ich bei den Razzien dabei bin, sage ich den Polizisten immer: Es geht heute Abend nicht darum, dass ihr irgendeinen Ganoven festnehmt. Ihr müsst denen beibringen, welche Regeln bei uns gelten, und zwar auch bei vermeintlichen Bagatelldelikten. Ob der Tabak nicht verzollt ist, einer illegal arbeitet, ob die Küche dreckig ist und geschlossen werden muss: Die müssen lernen, dass bei uns das Gesetz des Staates gilt, und nicht das Gesetz der Familie. Das ist natürlich wahnsinnig langfristig. Ich glaube aber, das ist der einzige Weg. Ich bin mir übrigens nicht sicher, dass alle Leute aus dem bürgerliche Lager, die bei meinen Clan-Razzien klatschen, diese Konsequenz auch für sich persönlich akzeptieren würden. Als ich im Hambacher Forst das Gleiche gemacht habe, war ja ein großer Teil der bürgerlichen Gesellschaft gegen mich. Da sollten Regeln plötzlich nicht mehr gelten. Oder wenn sie falsch parken. Wir haben eine Mentalität in der Gesellschaft, die mir Kummer macht. Jeder glaubt, er hätte Recht. Davon müssen wir wegkommen. Wenn sich abends einer beim Bier beschwert, dass die Politesse ihn aufgeschrieben hat, dann sollten wir widersprechen und sagen: Du hast doch falsch geparkt! Regeln gelten für alle. Ist mir egal, ob links oder rechts, Ausländer oder Deutscher, klein oder groß.

Sind Sie Ziel von Hass im Netz?

Reul: Im Netz, per Brief, per Mail, einmal sogar auf einem Transparent über der Autobahn. Die schlimmste Zeit war die Hambach-Zeit. Da werden Sie nervös. Ich zeige alles an. Jede Beleidigung, jede Bedrohung. Das kommt natürlich alles zurück, weil es eingestellt wird, was mich erschreckt. Uns fehlen die IP-Adressen, weil wir noch immer keine Vorratsdatenspeicherung haben.

Mit 2500 Polizisten pro Jahr stellen Sie deutlich mehr ein als ihre Vorgänger, aber bei den Behörden kommen nicht alle 2500 an. Warum?

Reul: Im letzten Abschlussjahrgang sind uns 17 Prozent auf der Strecke verloren gegangen. Das ist eindeutig zu viel. Wir haben einfach Leute, die es nicht schaffen. Aber dieses Abbrecherphänomen gibt es ja an allen Hochschulen. Auch weil wir eine Qualität von den Schulen bekommen, die nicht so ist, wie sie sein sollte. Um mal die Wahrheit auszusprechen. Das ist ein dickes Problem. Die können teilweise kein Deutsch und nicht rechnen. Das sind ganz praktische Probleme. Da bin ich jetzt eingeschritten. Für diese Leute gibt es jetzt verpflichtende Nachhilfe. Mich nervt, dass einer wegen einer einzigen Klausur am Ende durchflutscht. Es gibt aber auch welche, die sportlich Probleme haben. Viele junge Leute spielen heute nicht mehr Fußball, die hängen lieber vor dem Computer. Das erklärt alles. Wir hatten 11.500 Bewerber und kriegen gerade mal 2500 zusammen.

Wollen sie nach 2022 eine weitere Amtszeit Innenminister sein?

Reul: Keine Ahnung. Erstmal muss ich die Legislaturperiode überstehen, das ist bei einem Innenminister ja nicht selbstverständlich. Wenn das klappt, gucken wir weiter. Außerdem entscheidet der Wähler, wer an die Regierung kommt.

Ist das ein Vorteil, diese Gelassenheit zu haben?

Reul: Ja. Wissen Sie, ich habe in den letzten Jahren gedacht: Wie gut, dass du damals nicht Minister geworden bist, als ich da im Landtag saß in den 80ern und 90ern − und unbedingt Schulminister werden wollte. Ich war ein aufgekratzter, rappeliger Typ, dem nichts schnell genug gehen konnte. Heute mache ich es anders, als ich es damals gemacht hätte. Heute habe ich mehr Abstand. Ich habe während meiner Zeit in Brüssel auch gelernt, mit Sozialdemokraten zusammenzuarbeiten. Man lernt, dass es Sachen gibt, die wichtiger sind als der Kleinkrieg. Gerade jetzt sind wir in einer Zeit, in der man die kleinen Streitereien noch mehr verdrängen muss, weil viel zu viel auf dem Spiel steht. Siehe Thüringen. Wir müssen jetzt sehen, wie wir wieder Ruhe in den Laden kriegen und Vertrauen zurückbekommen. Ich habe über Weihnachten das Buch „Die Totengräber” gelesen. Da werden die letzten zehn Wochen der Weimarer Republik tagebuchmäßig erzählt. Das ist irre! Da werden sie hochsensibel, wenn sie sich angucken, wie sich unsere Gesellschaft gerade entwickelt. Was Vertrauen angeht, und Hass.

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