Bildungsforscher Rainer Dollase aus Bielefeld über die Folgen aus dem Corona-Lockdown für Schulen, Kinder und Lehrer
„Präsenzunterricht ist und bleibt besser“
Bielefeld (WB)
Prof. Dr. Rainer Dollase (77) ist einer der renommiertesten Bildungsforscher überhaupt. Der emeritierte Professor der Universität Bielefeld befasst in seiner Forschung derzeit natürlich vor allem mit den Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die Schulen. Andreas Schnadwinkel hat mit Rainer Dollase über die Probleme und mögliche Lösungen für den praktischen Unterricht gesprochen.
Hongkong hat die Schulen geschlossen und die Geschäfte offen gehalten, und auch Israel hat die Schulen früh als Infektionsherde ausgemacht und geschlossen. In Deutschland verfolgt die Politik den Ansatz, den Präsenzunterricht in Schulen möglich zu machen. Warum ist das so? Sollen Kinder und Jugendliche betreut werden, damit die Eltern arbeiten können? Und soll Unterricht in den Schulen stattfinden, weil wir bei der Digitalisierung hinten dran sind?
Rainer Dollase: Erstens: Ich nehme wahr, dass der Widerstand gegen Distanzunterricht – vor allem auch gegen jede Form von Digitalisierung – in der deutschen Erziehungswissenschaft, in der Lehrerschaft, bei Schülern und Eltern größer ist als anderswo. Dafür werden zahlreiche Argumente bemüht – im Hintergrund lauert die Technikfeindlichkeit. Zweitens: Präsenzunterricht kann unter Leistungsgesichtspunkten die beste Form von Unterricht sein – muss er aber nicht, wenn unwirksame Methoden verwendet werden, zum Beispiel die Duldung von Lärm und Disziplinlosigkeit, zu viel selbstständiges Ausfüllen von Arbeitsblättern. Der Neuseeländer John Hattie hat ja schon vor Jahren eine Menge solcher Null-Maßnahmen zusammengestellt. Drittens: Auch in Hongkong und Israel müssen Eltern von Klein- und Schulkindern arbeiten – die Betreuung der Kinder kann man auch anders als durch Präsenzunterricht lösen.
Fünf Milliarden Euro stellt der Bund für die Digitalisierung der Schulen seit Mai 2019 bereit. Dass die Mittel noch nicht einmal zu zehn Prozent abgerufen worden sind, hat mehrere Gründe. Einerseits soll die Antragstellung extrem bürokratisch sein, andererseits soll es in der Schulverwaltung haken. Sind die Schulen von den Landesregierungen zur Unselbstständigkeit erzogen worden? Fehlt da die Eigeninitiative?
Dollase: An Eigeninitiativen und Ideen an den Schulen fehlt es nicht. Es ist toll, welche Ideen rund 160.000 hauptamtliche Lehrkräfte in NRW entwickelt haben und anwenden könnten. Die gesamte Schuladministration ist aber gegenüber dieser Ideenflut zwangsweise nur auf Prüfung der „Rechtskonformität“, „Erlasskonformität“ und der Einhaltung von Beschaffungsrichtlinien fixiert – und nicht auf die Entwicklung von raffinierten Lösungen. Eine derart feudale Durchsetzung der Meinung von oben nach unten ist für eine flexible Reaktion auf unvorhergesehene Krisen und Herausforderungen nur suboptimal geeignet. Viele Lehrer und Lehrerinnen und die Schulleitungen verlieren in dieser Situation tatsächlich die Lust an der Eigeninitiative. Was neu ist, ist meist nicht erlasskonform.
Geht die Digitalisierung vereinzelt schon über das Verschicken von Aufgaben per E-Mail hinaus? Oder ist das in etwa unser Stand?
Dollase:Ja, es geht oft darüber hinaus, zum Beispiel bei Videokonferenzen, das ist Unterricht live, interaktiv und über den Computerbildschirm. Die Videotelefonie hat mit dem Präsenzunterricht das „Uno Actu“-Prinzip gemein – Produktion und Konsum der Dienstleistung Unterricht fallen zeitlich zusammen. Und es ist interaktiv – das heißt, ich kann den Schüler X drannehmen oder um einen Beitrag zum Unterricht bitten. Setzt aber voraus, dass Schülerinnen und Schüler so ein Gerät für sich alleine haben. Aber manche Menschen sehen das Verschicken von Arbeitsblättern per E-Mail schon als Digitalisierung. Das ist es nicht – geht nur schneller, ist alter Wein in neuen Schläuchen.
Die Corona-Pandemie macht die seit Jahrzehnten bestehenden Probleme im Schul- und Bildungsbereich mehr als deutlich. Kommen wir bei der Digitalisierung erst richtig voran, wenn in den Lehrerzimmern der Generationswechsel vollzogen ist?
Dollase: Also ich habe seit meinem 25. Lebensjahr dauernd und ständig mit elektronischer Datenverarbeitung und Computern zu tun gehabt und würde mich mit meinen 77 Jahren gegen das pauschale Vorurteil „Alte sind nicht innovationsfreudig“ wehren. Ich kenne genügend junge Menschen, die aus grundsätzlichen Überlegungen gegen Internet, Social Media und digitalisierten Unterricht eingestellt sind.
Wenn es praktisch möglich wäre: Wäre es im Sinne der Bildung sinnvoll, alle Schüler das laufende Schuljahr wiederholen zu lassen?
Dollase: Ich bin für flexible Schulzeitverlängerung, ähnlich wie der Lehrerverbandspräsident Heinz-Peter Meidinger. Was ausgefallen ist, wird nachgeholt. Ich glaube auch, dass das praktisch möglich ist.
Die schultägliche Lernzeit halbiert sich während der Schulschließungen auf im Schnitt 3,6 Stunden pro Tag. Damit sinkt die Leistung. Wie sollen Lehrer da faire Noten geben können? Die meisten Noten dürften wegen der Pandemie eher zu gut als zu schlecht sein, oder?
Dollase: Ich rate zur Vorsicht bei der Interpretation dieser Daten. Leistung sinkt nicht zwangsläufig durch weniger Schulstunden am Tag. Im Präsenzunterricht verlieren manche Schülerinnen und Schüler durch Unaufmerksamkeit alles. Und im Distanzunterricht kommen manche auch ohne Familienhilfe bestens zurecht. Gemobbte Kinder können gar richtig aufleben. Aber das Hauptproblem ist die gerechte und faire Notengebung. Bei Hausarbeiten (nichts anderes ist meist der Distanzunterricht) weiß man nicht sicher, ob es die Leistung des Kindes ist – oder die von Oma, Opa, Tante, Mutter oder Vater.
Es gibt Forderungen, dass im Sommer niemand sitzenbleiben dürfe. Wie sehen Sie das?
Dollase: Das ist sicher nett gemeint. Aber was ausgefallen ist, muss nachgeholt werden – das ist wichtig. Und man kann jenen, die den Durchblick vollständig verloren haben, raten, freiwillig eine Klasse zu wiederholen, und das nicht als „Sitzenbleiben“ etikettieren. Ich selbst bin in der Obertertia (9. Schuljahr) sitzengeblieben. Das war das beste schulische Ereignis, das mir je passiert ist.
Was ist das Abitur 2021 wert? Glauben Sie, dass Personalabteilungen diesen Jahrgang später einmal als Notabitur einstufen werden? Und hätte das wirklich Folgen bei der Jobsuche?
Dollase: Ich bin gegen jede Form von Hysterie. Nein, ich glaube nicht, dass die aktuelle Generation bei der Jobsuche benachteiligt wird. Einmal, weil es Abiturienten aller Länder der Welt betrifft und kaum ein Unternehmen so borniert sein wird, tüchtige junge Menschen wegen einer Pandemie nicht einzustellen. Wir haben ja keine anderen.
2017 ist die FDP mit dem Slogan „Das Digitalste an Schulen darf nicht die Pause sein“ in den Bundestagswahlkamp gegangen und könnte ihn wieder nutzen. Was sagt das über die Politik und die Schulen?
Dollase: Präsenzunterricht ist und bleibt im Schnitt besser als digitaler Distanzunterricht, auch wenn dieser dem „Uno Actu“-Prinzip interaktiv folgen kann. Aber die Digitalisierung des Präsenzunterrichts bleibt ein wichtiges Anliegen auch dann, wenn wir Pandemie und/oder gravierenden Lehrermangel überwunden haben. Die Möglichkeiten und Probleme der Digitalisierung in allen Fächern sind eine Daueraufgabe für jeden Unterricht in jedem Fach.
Durch Distanzunterricht, der nicht optimal funktioniert, entstehen zwangsläufig Lernverluste. Was kann man dagegen tun?
Dollase: Vorsicht vor der Interpretation empirischer Daten. Es gibt eine saubere Untersuchung an etwa 300.000 niederländischen Schülerinnen und Schülern vor und nach dem Lockdown, also mit Distanzunterricht. Verglichen mit den in den Vorjahren erhobenen Daten gab es im Schnitt eine klitzekleine Verschlechterung (unterhalb der von John Hattie definierten Wirksamkeitsschwelle). Die ist wissenschaftlich relevant, aber nicht praktisch bedeutsam. Aber: Innerhalb dieser kleinen Verschlechterung waren es Kinder aus bildungsfernen Schichten, die den größten Leistungsrückgang erlebten. Also: Dagegen hilft nur ein raffinierter Wechsel zwischen Präsenzunterricht und Distanzunterricht wie etwa im Modell des Mathematiklehrers und Fachbuchautors Michael Felten: jeden Tag Präsenz mit der halben Klasse den halben Tag – dann kommt die andere Hälfte. Lehrer bleiben bei ihrem Unterrichtsdeputat, die Hausaufgaben sind umfangreicher als sonst.
Was geht verloren, wenn die direkte Interaktion zwischen Lehrer und Schüler fehlt?
Dollase: Für diese direkte Interaktion gibt es einen möglichen digitalen Ersatz – die Videotelefonie oder Videokonferenzen – die technisch stabil und in Ultra-HD übertragen und auf Schülertablets empfangen werden können müssen. Dieser Ersatz wird auch nach technischer Perfektionierung noch Defizite haben. Kann eine DVD eines Konzertes denselben Eindruck vermitteln wie der Live-Besuch eines Konzertes? Verloren gehen kann bei digitaler Feststellung der Noten (Tests, Klausuren) die Gerechtigkeit – wer gepfuscht hat, fällt digital nicht so auf.
Wenn Sie das Idealbild eines Lehrers zeichnen, dann denke ich immer an meine Schulzeit in den 70ern und 80ern zurück, als es noch viele Charismatiker in den Kollegien gab. Die gibt es heute nur noch sehr selten. Warum ist das so?
Dollase:Ja, das habe ich auch so erlebt. Diese Typen werden heute aussortiert. Entweder hat man Angst, die seien nicht „erlasskonform“, oder man neidet ihnen die Gabe der Begeisterung von Lernenden. Oder: Man wackelt bedenklich mit dem Kopf „Ob diese aber die Selbstständigkeit des Lernens fördern…“. Empirisch steht felsenfest: Lehrkräfte sind erfolgreich, wenn sie eine aktive Rolle im Lernprozess der Lernenden übernehmen, also motivieren, gut erklären können, gute Beziehungen zu Schülern entwickeln, kognitiv anregen. Stille und zurückhaltende Unterrichtsbürokraten und Moderatoren selbstgesteuerter Lernprozesse können das auch erreichen. Nicht alle müssen Showmaster-Qualitäten entwickeln. Aber sie müssen für ihr Fach brennen und Schüler ernst nehmen und vermitteln, dass sie gerne unterrichten.
Schriftstücke mancher Lehrer lesen sich so, als hätte der Bildungsnotstand die Lehrerzimmer erreicht. Was läuft falsch bei der Lehrerausbildung?
Dollase: Die Lehrerausbildung muss sich an der Juristen- und Medizinerausbildung messen lassen. Jede/-r Jura-Professor/-in und jede/-r Medizin-Professor/-in kann praktisch das vormachen, was er in der universitären Lehre predigt. Es liegt eine Einheit von Praxis und Forschung vor. Das gibt es in der Lehrerausbildung nicht. Das Ausbildungspersonal müsste jederzeit den guten Unterricht vormachen können, auch scheitern können vor den Augen der Studierenden. Oder zumindest jede Woche in einer problematischen Klasse der Sekundarstufe 1 hospitieren müssen. Dann wird die Lehrerausbildung besser werden.
Der Berliner Bildungshistoriker Heinz-Elmar Tenorth erkennt in den Folgen der Corona-Pandemie für das Bildungswesen einen Rückfall um 200 Jahre in die Zeit des Feudalismus, als Herkunft und Elternhaus über Bildungserfolg entschieden. Ist das zu überspitzt?
Dollase: Sicher aus bildungspolitischen Gründen überspitzt, aber die Tabuisierung der wahren Ursachen für Bildungsungerechtigkeit – die in Tenorths Zitat versteckt ist – hat System. Manche scheinen zu glauben, dass nur „Abi und Uni“ Bildung wäre und hängen einem impliziten Bildungsdünkel an. Eigentlich beginne der Mensch beim Akademiker, wehren das aber ab, indem sie heuchlerische Phrasen der Anerkennung für Facharbeiterberufe nachschieben. Bildung ist nicht nur akademischer Lifestyle und sprachlicher Deckmantel. Die adäquaten Selbstverwirklichungen als „denkender Praktiker“ und „Macher“ finden in dem auf akademische Büroberufe zugeschnittenen Bildungssystem keine Berücksichtigung. Also: Es muss für jeden Beruf eine Perspektive auf die höhere berufliche Bildung im Hochschulrang geben. Daher müssen Bildungsbewertungen und -abschlüsse drastisch reformiert werden.
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