Ein launiger Denis Scheck eröffnet die Bielefelder Literaturtage
Rettungssanitäter der Bücher
Bielefeld (WB). Wie kann ein Kinderbuch wie „Karlson vom Dach“ zum Kanon der Weltliteratur gehören und gleichwertig neben Werken von Arno Schmidt James Joyce, Franz Kafka, Thomas Mann und Simone de Beauvoir bestehen? – um hier nur mal sporadisch einige jener Autoren zu benennen, die Denis Scheck in seinen 2019 erschienen Ratgeber „Die 100 wichtigsten Werke der Weltliteratur“ aufgenommen hat. Der berühmte Literaturkritiker, der am Donnerstag die Bielefelder Literaturtage in der Stadtbibliothek eröffnete, bleibt um eine Antwort nicht lange verlegen. Karlson sei der Prototyp des Literaturkritikers schlechthin. „Ich fühle mich von ihm gut verstanden, unter anderem dank seines anarchistischen Geistes. Karlson ist ein Mann der Revolution.“
Denis Scheck erhebt mit seinem neuen Kanon keinen Anspruch auf Allgemeingültig- oder Vollständigkeit. Nur so viel: In einer Zeit, in der sich Literatur als Gegenmittel zu sozialen Medien erstaunlich gut behaupte, bedürfe es einer neuen Scheck-Liste im besten Wortsinn.
Quer durch alle Genres und Gattungen
Was unter tausenden von zweifellos ausgezeichneten Werken darin Aufnahme finde, so Denis Scheck, müsse seinen Blick auf die Welt nachhaltig verändert haben. Und das trifft bei Scheck auf Tolkiens „Herr der Ringe“ ebenso zu wie auf Ovids „Metamorphosen“, auf Flauberts „Madame Bovary“ ebenso wie auf Shakespears „Sturm“, Christies „Tod auf dem Nil“, Stevensons „Schatzinsel“, Nabokovs „Lolita“ und Rowlings „Harry Potter“. Quer durch alle Genres, Gattungen und Zeiten stellt Denis Scheck seine persönlichen Orientierungsmarken auf.
Keine Rede von einer traurigen Selektionsarbeit, bei der liebgewonnene Schätze das Nachsehen hatten. Vielmehr bemüht Scheck das Bild einer Triage, also jenes Katastrophenszenarios, bei dem massenhaft Verletzte in lebensgefährlich Verletzte, Schwer- und Leichtverletzte eingeteilt und hoffnungslose Fälle erst gar nicht behandelt werden. „Die Auswahl war für mich eine schöne Herausforderung und hat mir großen Spaß gemacht“, sagt Scheck, der seinen Zivildienst bekanntlich als Rettungssanitäter absolvierte.
Belletristik als moralischer Kompass
Das Lesen von Büchern, bekennt Scheck öffentlich, habe ihm in seiner Kindheit das Leben gerettet. Denn die Tatsache, dass seine Eltern mit ihm im Alter von acht Jahren von Stuttgart in ein 200-Seelen-Dorf zogen, habe er nur lesend überstehen können. Fußballspielen mit der Dorfjugend sei keine Option gewesen, lässt Denis Scheck wissen: „Die anderen Kinder waren dumm wie Kohl, als Resultat von 500 Jahren Inzucht.“
Für Denis Scheck dient die Belletristik der Bestimmung „unserer moralischen Werte und ethnischen Orientierung“. Heißt das im Umkehrschluss, dass Leute, die nicht lesen, über keinen moralischen Kompass verfügen? So weit will der Kritiker dann doch nicht gehen. Nur so viel: „Literatur ist nicht der einzige Weg, aber in meinen Augen der Königsweg.“
Der Lesung konnten Corona-bedingt nur 50 Zuhörer beiwohnen. 82 weitere Literaturbegeisterte verfolgten die Lesung über einen Live-Stream, der erstmals eingerichtet wurde. „Ein guter Schnitt“, resümiert Klaus-Georg Loest. „In anderen Städten nutzten diesen Streamingdienst bislang zwischen 30 und 40 Personen pro Lesung.“, so der stellvertretende Leiter der Stadtbibliothek.
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