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17-Jährige am Montag sieben Wochen verschwunden – Mordkommission hofft auf Hinweise

Zhinwar war mit Bielefelder Jugendamt in Kontakt

Bielefeld

Im Fall der vermissten jesidischen Kurdin Zhinwar M. (17) aus Bielefeld verdichten sich die Hinweise, dass sie Opfer eines Verbrechens geworden sein könnte – begangen von Familienmitgliedern?

Von Christian Althoff

Solche Selfies postete Zhinwar regelmäßig auf Instagram - angeblich zum Missfallen ihrer Familie. Foto: Polizei

Die in Bielefeld geborene Schülerin hatte einen westlichen Lebensstil und zeigte sich beispielsweise bei Instagram mit bauchfreier Kleidung. Dieses Verhalten soll zu erheblichen Konflikten in der traditionell verwurzelten Familie geführt haben, die in Bielefeld einen Kiosk betreibt.

Opfer häuslicher Gewalt?

Am Freitag wurde bekannt, dass das Mädchen, das von seinen Freundinnen Zhina genannt wird, zu Hause Gewalt erfahren haben soll. Angeblich soll so versucht worden sein, die Schülerin zu einer Änderung ihres Lebensstils zu zwingen. Die Frage, ob Zhinwar in ihrem Elternhaus geschlagen worden sei und es in diesem Zusammenhang eine Anzeige bei der Polizei gegeben habe, wollte die Kripo nicht beantworten. „Fragen Sie den Staatsanwalt“, sagte Markus Mertens. Er leitet die Mordkommission „Reise“, die das Schicksal der seit fast sieben Wochen vermissten Bielefelderin aufklären will. Bei der Staatsanwaltschaft war Freitagnachmittag niemand mehr zu erreichen. Die unbestätigte Information, dass Zhinwar zu Hause misshandelt worden sein soll, wird aber durch den Umstand gestützt, dass die Schülerin von einem Mitarbeiter des Bielefelder Jugendamts betreut wurde.

Zahn-Verschönerung ein Köder?

Bisher hat die Mordkommission kein klares Bild von den letzten Tagen, in denen es noch Lebenszeichen von der Deutschen gab – auch, weil die Eltern nicht kooperieren sollen. „Wir kennen den Flug, mit dem die Gruppe am 9. April in die Türkei gereist ist“, sagt Markus Mertens. Zu der Gruppe sollen Zhinwar und ihre Eltern gehört haben sowie angeblich mindestens ein Bruder. Es ging in eine türkische Stadt, in der Zhinwars Zähne gerichtet werden sollten. War das ein Köder, um sie ins Ausland zu locken?

Handy verschwand aus Netz

Details kennt die Polizei nicht. „Wer der Zahnarzt war, sagt man uns beispielsweise nicht“, erklärt Mertens. Aber dass an den Zähnen etwas gemacht worden sei, stehe fest – denn Zhinwar habe stolz entsprechende Fotos gepostet. Irgendwann soll die Gruppe von der Türkei in den Irak gereist sein – wie und auf welchem Weg ist unbekannt, Stempel in den Papieren gibt es nicht. Am 24. April meldete sich Zhinwar zum letzten Mal über ihr Handy, dann verschwand das Gerät aus dem Netz.

Für Kripo liegt vieles im Nebel

Am Tag darauf will die Familie aus dem Irak zurück nach Deutschland geflogen sein – ohne Zhinwar. Details dieser Reise kennt die Kripo nicht, weil sie an irakische Fluggastlisten nicht herankommt. „Für uns liegt vieles im Nebel. Dass wir relativ schnell von dem Verschwinden des Mädchens erfahren haben, ist den Freundinnen zu verdanken, die sich Sorgen um Zhina gemacht haben, als sie nach den Ferien in der Schule fehlte und ihr Handy stumm blieb. Sie war ständig auf Instagram und postete die typischen Fotos, aus denen viele Mädchen der Generation ihr Selbstwertgefühl schöpfen“, sagt Mertens. Die Eltern seien erst zwei Wochen später zur Polizei gegangen und hätten angegeben, ihre Tochter habe sich im Irak „abgesetzt“.

Markus Mertens leitet die Mordkommission „Reise“ Foto: Althoff

Theoretisch sei möglich, dass das Mädchen im Irak gefangengehalten werde, um es vom westlichen Leben fernzuhalten. „Wenn das so wäre, würde Zhina zumindest noch leben und die Perspektive haben, vielleicht irgendwann zu entkommen“, sagt Mertens. Er befürchte aber leider, dass die Schülerin tot sei

Keine Ermittlungen im Irak

Es wurmt den Leiter der Mordkommission, dass er nicht dort ermitteln kann, wo sich ein Verbrechen abgespielt haben könnte – vielleicht im irakischen Heimatort der Eltern. Natürlich hat Mertens längst Kontakt mit dem Bundeskriminalamt aufgenommen, aber auch dem sind die Hände gebunden – es hat keinen Verbindungsbeamten im Irak, wie ein BKA-Sprecher am Freitag erklärte. Möglich wäre, über diplomatische Kanäle Verbindungen mit dem Irak aufzunehmen, aber das könnte laut Mertens Jahre dauern.

Zwar braucht die Staatsanwaltschaft keine Leiche, um einen Mord anzuklagen, aber dann müssen die Indizien schon ziemlich gut sein. Die Mordkommission setzt im Moment auf die zahlreichen Handys und anderen Geräte, die sie am Donnerstag bei Durchsuchungen in Zhinwars familiärem Umfeld sichergestellt hat . „Die Datenmengen sind enorm“, sagt Markus Mertens. „Mit der Auswertung sind die Kollegen vom Kommissariat 25 auf Monate beschäftigt, und das ist ja nicht deren einziger Fall.“

Was verraten die Handys?

Die Mordkommission hofft, aus den Handydaten Bewegungsprofile der Familienmitglieder erstellen zu können, bislang unbekannte Kontakte zu finden und mit etwas Glück Fotos zu entdecken, die etwas über Zhinwars Schicksal verraten. „Der Durchbruch kann nächste Woche kommen, es kann bis dahin aber auch noch Monate dauern“, sagt Mertens. Seine Mordkommission wird personell ständig den Erfordernissen angepasst und wurde jetzt verkleinert, bis es neue Ermittlungsansätze gibt. „Ich denke schon, dass es in der jesidischen Community Menschen geben könnte, die uns weiterhelfen könnten. Es wäre schön, wenn sie sich melden – wie andere Hinweisgeber auch.“

Im Prozess um den „Ehrenmord“ an der ebenfalls jesidischen Schülerin Arzu Özmen (18) aus Detmold durch ihre Geschwister hatte der Gutachter Prof. Dr. Jan Kizilhan von der Uni Freiburg – selbst Jeside – 2012 ausgesagt: „Im Jesidentum steht nicht der Einzelne im Vordergrund, sondern die Gemeinschaft. Eine individuelle Entwicklung ist nicht gewünscht, man hat sich den Regeln der Allgemeinheit unterzuordnen.“ Das Jesidentum sei eine patriarchische Gesellschaft. „Der Vater ist der Familienvorstand, der älteste Sohn sein Vertreter.“

Schülerin Arzu Özmen aus Detmold, ebenfalls Jesidin, wurde wegen ihres westlichen Lebenswandels zu Hause verprügelt und später laut Gericht zur Wiederherstellung der „Familienehre“ erschossen. Das Foto zeigt eine Mitarbeiterin der Menschenrechtsorganisation Peri e.V. an ihrem Grab in der Türkei. Die Eltern nahmen nicht an der Beerdigung teil. Foto: Peri

Es sei nicht ungewöhnlich, das sich ein liebevoller Vater zum Despoten wandele, sobald seine Tochter in die Pubertät komme. Werde ein Jeside in seiner Ehre verletzt, werde das immer als Angriff auf die gesamte Familie gesehen, sagte Profg. Kizilhan. „Es gilt dann, die Ehre wieder herzustellen.“ Das könne mit Gesprächen geschehen, mit Geld – oder mit Gewalt.

Hinweise erbittet die Mordkommission unter 0521/545-0.

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