Tausende Mitarbeiter der Fleischindustrie mussten in Quarantäne
7000 Corona-Klagen: OVG Münster verhandelt über Lohn-Entschädigung
Rheda-Wiedenbrück
Tausende Mitarbeiter in der Fleischindustrie mussten nach behördlicher Anordnung mit Corona-Infektionen in Quarantäne. Das Land verweigerte daraufhin Entschädigungszahlungen und löste eine Klagewelle aus. Jetzt ist das NRW-Oberverwaltungsgericht am Zug.
Im Streit um Lohn-Entschädigungszahlungen in der Corona-Pandemie zwischen dem Land und der Fleischindustrie verhandelt das nordrhein-westfälische Oberverwaltungsgericht zwei Musterverfahren. Die Behörden hatten in der ersten Phase der Pandemie im Frühjahr 2020 viele Beschäftigte in die Quarantäne geschickt. Laut Infektionsschutzgesetz stehen den betroffenen Unternehmen, in der Regel damalige Subunternehmen der Schlachtbetriebe Tönnies (Rheda-Wiedenbrück) und Westfleisch (Münster), Entschädigungszahlungen für den bezahlten Lohn zu.
Karl-Josef Laumann (CDU)
Es geht am Freitag um die Folgen eines Satzes, den Arbeits- und Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) zu Beginn der Pandemie 2020 gesagt hatte: „NRW wird freiwillig keinen Cent an Tönnies zahlen!“
Laumann meinte die gesamte Fleischbranche, und tatsächlich hat sie bis heute keine Entschädigung für Quarantänezeiten erhalten. Das könnte sich ändern, sollte das OVG das Land heute verurteilen.
Laut Infektionsschutzgesetz bekommt jeder, der in Quarantäne geschickt wird, sein Nettogehalt weiter. Der Arbeitgeber tritt in Vorleistung und bekommt den Betrag ersetzt. In NRW ist der Landschaftsverband Westfalen-Lippe mit der Auszahlung betraut.
Eine Klage pro Mitarbeiter
2020 machte Karl-Josef Laumann Arbeits- und Wohnbedingungen der Tönnies-Mitarbeiter für einen Coronaausbruch im Kreis Gütersloh mit tausenden Infizierten verantwortlich. Der Minister wies deshalb den Landschaftsverband an, alle Anträge auf Lohnerstattung – ob von Tönnies oder Subunternehmern – abzulehnen. Die Firmen blieben auf den Kosten sitzen und klagten. Weil für jeden Mitarbeiter eine eigene Klage eingereicht werden muss, liegen inzwischen 7000 Verfahren bei den Verwaltungsgerichten in Minden und Münster. Sie sind zuständig, weil Tönnies seinen Sitz in Ostwestfalen und Westfleisch in Münster hat.
Bisher nur erstinstanzliche Urteile
Beide Gerichte haben im vergangenen Jahr erstinstanzliche Urteile gefällt, die nach Angaben des Ministeriums etwa zur Hälfte für und gegen das Land ausgegangen sind. Deshalb richtet sich heute der Blick nach Münster, wo erstmals zwei Berufungen verhandelt werden. Eine betrifft einen Mitarbeiter bei Tönnies, die andere einen bei Westfleisch. Von den Urteilen wird eine Signalwirkung erwartet, die die Fronten auflösen soll – und vielleicht dazu führt, die 7000 Verfahren außergerichtlich zu beenden.
Um 10.15 Uhr geht‘s los
Ab 10.15 Uhr geht es um eine Entscheidung des Verwaltungsgerichts Minden vom 26. Januar vergangenen Jahres. Ein rumänisches Werkvertragsunternehmen forderte für einen negativ getesteten Zerleger, der vom 17. bis 30. Juni 2020 in Quarantäne musste, den Lohnersatz. Das Land – vertreten durch den Landschaftsverband – lehnte ab und erklärte, das Unternehmen habe Hygienevorschriften verletzt. Der Vorwurf wurde nicht konkretisiert sondern es hieß, das Infektionsgeschehen bei Tönnies sei bei einem angepassten Hygieneplan „schlechterdings nicht denkbar“ gewesen. Außerdem meinte das Land,, Quarantäne sei einer krankheitsbedingten Abwesenheit ähnlich, weshalb der Arbeitgeber sechs Wochen zahlen müsse.
Das Verwaltungsgericht folgte dem nicht und verurteilte das Land, dem Unternehmen 574 Euro plus 390 Euro Sozialabgaben zu zahlen. Dazu kamen 174 Euro Gerichtskosten sowie die vierstelligen Anwaltskosten beider Seiten.
Westfleisch-Fall um 13 Uhr
Das Westfleisch-Verfahren beginnt heute um 13 Uhr. Auch in diesem Fall hatte das Land eine Zahlung mit Verweis auf Hygieneverstöße abgelehnt. Damals war ein polnischer Fleischer wegen „Infektionsverdachts“ in Quarantäne geschickt worden. Die Münsteraner Richter verurteilten das Land im Mai in erster Instanz, 704 Euro Netto-Verdienstausfall und 346 Euro Sozialabgaben zu zahlen. Sie hielten u.a. die Frage mutmaßlicher Hygieneverstöße für unerheblich. Denn es sei unmöglich, nachzuverfolgen, wo sich jemand infiziert habe.
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