Familien im Lockdown
„Viele Eltern sind verzweifelt“
Halle
Papa schreibt seinem Chef eine Mail, Mama ist schon in der nächsten Telefonkonferenz, Lisa ist sieben und muss Mathe machen, Peter ist zwölf und hat gerade digitalen Unterricht, und der einjährige Finn weiß gar nicht, warum keiner Zeit für ihn hat. Diese Geschichten schreibt der Lockdown in Coronazeiten. Sie sind keine Ausnahmen.
„Die Nerven liegen in vielen Familien blank“, weiß Monika Causemann. Sie leitet die evangelische Familien- und Erziehungsberatungsstelle der Diakonie im Kirchenkreis Halle. Täglich sprechen sie und ihre Kollegen mit Familien – mal am Telefon, mal persönlich, mal per Videoberatung. In einem Fall anonym, im nächsten Fall mit vollem Namen. „Viele Familien sind verzweifelt“, sagt die Diplom-Pädagogin. Sie fragten sich, wie sie Struktur in ihren Alltag kriegen können. „Es gibt Eltern, die stehen um fünf oder sechs Uhr auf, damit sie ihre Arbeit erledigt bekommen. Dann stehen die Kinder auf und es geht weiter.“ Diese Situation sei sehr belastend für Familien. „Ich habe Hochachtung vor Familien mit kleinen Kindern. In 20 Jahren werden sie zurückblicken und sich fragen, wie sie das alles gemeistert haben“, ist Monika Causemann sicher.
Perfekte Mama, perfekte Arbeitnehmerin, perfekte Partnerin, perfekte Hausfrau: „Das ist oft der Anspruch, funktioniert aber nicht.“ Viele Eltern treibe die Sorge um, die Kinder zu vernachlässigen. Sie seien zerrissen zwischen dem Anspruch an den Job und den Bedürfnissen der Kinder. „Mein Rat lautet dann immer: Erst einmal die Ansprüche herunterfahren. Wenn es finanziell geht, bestellen Sie was zu essen und lassen es gelegentlich mal mit dem Kochen, und es ist auch okay, wenn die Kinder mal eine halbe Stunde länger was kindgerechtes im Fernsehen schauen“, betont Monika Causemann.
Sich selbst dringend Pausen gönnen!
Was alle Eltern sich auf die Fahnen schreiben sollen laut der Diplom-Pädagogin klingt so einfach. „Gönnen Sie sich selbst Pausen. Und wenn es nur zehn Minuten sind. Sagen Sie den Kinder das auch einfach so: Mama und Papa brauchen jetzt mal eine Pause.“ Zudem sollten Eltern auch gelegentlich einzeln Dinge tun. „Auch Papa und Mama brauchen Freiräume, denn auch als Paar geht man sich in so einem Lockdown schnell auf die Nerven.“ Da sei der eine auch schon einmal froh, wenn der andere kurz aus dem Haus ist.
Die große Frage, die Familien seit nahezu einem Jahr umtreibt: Wie lange soll das noch so weiter gehen? „Das ist die größte Verunsicherung: Wo ist das Ende der Situation?“, sagt Monika Causemann. Natürlich könne auch eine Beratungsstelle diese Frage nicht beantworten. „Wir können die Situation nicht verändern, aber es hilft manchmal schon, seine Sorgen zu teilen“, weiß die Leiterin der Familien- und Erziehungsberatungsstelle in Halle.
Nach dem Lockdown im März 2020 kamen auffallend wenige Anrufe. „Das war wie eine Schockstarre der Familien“, beschreibt Causemann. Dann jedoch nach den Sommerferien stand das Telefon nicht mehr still. „Das war eine regelrechte Welle mit teils heftigen Fällen: von psychischer Instabilität über Gewalt in Beziehungen bis hin zu Vernachlässigung von Kindern.“
Schwer, auf die Großeltern verzichten zu müssen
Für viele Familien ist es schwer, dass Großeltern aus Vorsicht möglichst nicht mit in die Kinderbetreuung eingebunden werden können. „In Zeiten von geschlossenen Schulen und Kitas ist das eine Katastrophe für viele Familien.“ Zudem sei im ersten Lockdown der Kindergarten als Kontrollinstanz weggefallen und viele Kinder hätten leiden müssen. Und auch wenn aktuell die Kitas geöffnet seien, berichteten viele Eltern von massivem Druck von Erzieherinnen, die Kinder Zuhause zu betreuen. „Uns wird immer wieder berichtet, dass sich einige Eltern ständig rechtfertigen müssen, warum sie ihr Kind zur Betreuung schicken“, erzählt Monika Causemann. Bei allem Verständnis für den Wunsch, das Ansteckungsrisiko durch möglichst wenige Kinder in Kitas gering zu halten, dürfe nicht vergessen werden, dass Kinder durch absolut verzweifelte Eltern einen immensen Schaden nehmen könnten.
Die Familien- und Erziehungsberatungsstelle gibt allen Eltern einen Satz mit auf den Weg: „Haben Sie Mitgefühl mit sich selbst in dieser Ausnahmesituation.“
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