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Von jetzt auf gleich muss das X in Herford schließen: 100 Mitarbeiter erst einmal ohne Arbeit

„Hier herrscht jetzt Totentanz“

Herford (WB). Dirk Becker ist zum Heulen zumute. Immer wieder schüttelt er ungläubig den Kopf. Soeben hat der X-Betriebsleiter per Telefon die bittere Botschaft von der Stadt Herford erhalten. Die Großdiskothek muss unverzüglich schließen – und zwar bis Ende April.

Moritz Winde

Tristesse pur: Betriebsleiter Dirk Becker (links) und Kollege Lars Hellmann in der Main-Hall. Die beiden Männer gehören zum 100-köpfigen Team, das erst einmal nicht zur Arbeit zu kommen braucht. Foto: Moritz Winde

„Hier herrscht jetzt erst einmal die nächsten Wochen absoluter Totentanz“, sagt der 57-Jährige sarkastisch und blickt in die leere Main-Hall. Kollege Lars Hellmann, der für das Buchen der Künstler zuständig ist, nestelt aufgewühlt an seiner Zigarettenschachtel herum und steckt sich eine Kippe an: „Ich brauche jetzt außerdem erst einmal einen Schnaps“, sagt der 42-Jährige. Vorrat ist reichlich da, die Kühlschränke hinter den Tresen sind gut gefüllt. Die Crew hatte den Laden für die anstehenden Events bereits vorbereitet. Doch die fallen jetzt zwangsläufig ins Wasser.

Mehr als 2400 Leute passen ins X, an durchschnittlichen Freitagen und Samstagen sind es nach eigenen Angaben etwa jeweils die Hälfte. Übermorgen sollte die beliebte 90er-Jahre-Party steigen. Eigentlich! Für Ende März war das Musik-Festival „Safari“ mit allerhand Live-Acts in vier Areas geplant. Doch daraus wird nichts. Insgesamt gibt es pro Jahr 150 Veranstaltungen im früheren Kick, an den beiden Wochenendtagen und vor fast allen Feiertagen.

Wann dort wieder getrunken und gefeiert werden darf, ist vollkommen unklar. Das behördliche Verbot gilt erst einmal bis zum 30. April, kann zwar vorher aufgehoben werden, doch im X rechnet niemand damit. Im Gegenteil: „Ich glaube nicht an eine baldige Wiedereröffnung. Die Lage wird sich nicht so schnell entspannen. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn geht ja sogar davon aus, dass die Corona-Krise bis Ende 2020 anhält“, sagt Geschäftsführer Kai-Uwe Nolte.

Auch das Safari-Festival fällt aus

Aus Angst vor einer allzu schnellen Virus-Verbreitung in Herford hat die Verwaltung zu drastischen Maßnahmen gegriffen und  alle Freizeiteinrichtungen mit mehr als 100 Besuchern am Donnerstag dicht gemacht . Dazu zählen unter anderem die Eishalle, das Stadttheater, das H2O und die beiden Discotheken. Dr. Peter Böhm aus dem Krisenstab überbrachte die Order am Donnerstagmittag telefonisch dem X-Team, ein paar Stunden später kam das offizielle Schreiben per Mail.

„Nun haben wir endlich Gewissheit, auch wenn diese für uns natürlich extrem bitter ist“, sagt Kai-Uwe Nolte. Noch am Morgen habe er keine klare Aussage aus dem Ordnungsamt erhalten. „Ich hätte aber ohnehin nicht geöffnet. Ich wäre nicht bereit gewesen, das Ansteckungsrisiko zu übernehmen.“ Der 53-Jährige hat seit 1992 das Sagen im X.

Wie lange kann eine Disco überleben, in der der Betrieb zwangsweise stillgelegt wurde? Kai-Uwe Nolte zuckt mit den Schultern: „Keine Ahnung. Mein Kollege im Bielefelder Lokschuppen spricht von vier Wochen.“ Zur Höhe des abzusehenden wirtschaftlichen Schadens könne er noch nichts sagen. Dafür sei es viel zu früh. Alleine für das Safari-Festival, zu dem weit mehr als 1000 Fans elektronischer Musik kommen wollten, sei er mit einem hohen fünfstelligen Betrag in Vorleistung bei den Künstlern getreten.

Geschäftsführer fordert Hilfe vom Staat

Ob er dieses Geld wiedersieht? Kai-Uwe Nolte sagt, er müsse den Schock erst einmal verarbeiten und alles sacken lassen. Klar sei für ihn: „Der Staat muss uns – und damit meine ich die gesamte Gastronomie – finanziell helfen. Sonst werden etliche Betriebe pleite gehen. Das ist unausweichlich.“ Der Branche gehe es ja ohnehin schon nicht gerade prächtig. „Wer geht in diesen unsicheren Zeiten noch ruhigen Gewissens unter Leute?“

100 feste und freie Mitarbeiter sorgen in normalen Zeiten dafür, dass der Discobetrieb reibungslos läuft. „Für meine Leute tut’s mir besonders leid. Sie stehen ja jetzt auf der Straße“, sagt Kai-Uwe Nolte. Dazu gehört Dirk Becker. Den Betriebsleiter trifft das Disco-Aus extrem hart. „Meine gesamte Familie arbeitet im X. Meine Frau sitzt an der Kasse, ein Sohn steht hinter der Theke und der andere hilft bei allem, was so anfällt. Wir sind von heute auf morgen ohne Job. Alles bricht über uns herein“, sagt der 57-Jährige.

Kollege Lars Hellmann zeigt ihm auf dem Handy das Foto eines Dinosauriers. Dazu dieser Text: „Hände nicht gewaschen – Zack ausgestorben.“ Dirk Becker muss lachen. Wenigstens seinen Humor hat er sich behalten.

Die Stühle bleiben hochgestellt, die Zapfhähne trocken und die Lautsprecher aus. Foto: Moritz Winde
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