Dreijährige hat seltenen Gendefekt – Pflegenotstand trifft auch kleine Patienten
Wer hilft Anna-Lena?
Herford (WB). Sie kann nicht laufen, nicht essen, nicht atmen: Anna-Lena leidet unter einer seltenen unheilbaren Stoffwechselkrankheit. Die Dreijährige hat zu Hause Anspruch auf 24-Stunden-Intensivbetreuung. Doch es fehlt Personal. Der Pflegenotstand trifft die Allerkleinsten.
Natalia und Andreas Wall sind verzweifelt – und erschöpft. »Wir fühlen uns im Stich gelassen. Was sollen wir tun?« Seit mehr als zwei Jahren kämpfen die Eltern darum, dass ihre Tochter in den eigenen vier Wänden vernünftig und verlässlich versorgt wird. Herzkreislauffunktion und Sauerstoffsättigung des Kindes müssen ständig überwacht werden, das Mädchen benötigt Sauerstoff und wird über eine Magensonde künstlich ernährt – Aufgaben, die nur von examinierten Kräften erledigt werden dürfen.
Mit den Pflegediensten habe es Schwierigkeiten gegeben. Immer öfter seien Schichten ausgefallen – zwischenzeitlich sicher um die 20 im Monat, schätzt Natalia Wall. »Und manchmal wurde erst ganz spät abgesagt.« So wie am Silvesterabend 2017: »Mein Mann und ich wollten zu einer Party. Leider kam die Pflegerin nicht – und wir mussten zu Hause bleiben.«
Auf Nachfrage bestätigt der Leiter eines großen Pflegedienstes, Fachpersonal – insbesondere für die Kinderintensivpflege – sei so gut wie nicht zu finden. Hohe körperliche und emotionale Belastung, große Verantwortung, vergleichsweise geringe Bezahlung: »Es gibt sicher nicht nur den einen Grund.«
Familie übernimmt selbst den Spätdienst
Anna-Lenas Eltern erzählen, die Situation mit ihrer schwer kranken Tochter sei ohnehin schon schwer genug. »Anfangs hat dieser Schicksalsschlag unsere Beziehung gestärkt. Doch das ständige Theater um die Betreuung ist für die ganze Familie enorm belastend. Weshalb kann nicht alles reibungslos funktionieren?«, fragt Natalia Wall.
Immer wieder habe sich die sechsköpfige Familie an neue Pfleger gewöhnen müssen. »Wenn Anna-Lena dann endlich Vertrauen gefasst hatte, kam wieder jemand anderes. Ich habe mich in meinem eigenen Haus zeitweise fremd gefühlt. In zwei Jahren waren bestimmt 30 verschiedene Leute hier«, berichtet Andreas Wall.
Der Vater betont, man habe versucht, den Helfern Freiheiten zu gewähren und sie ins Alltagsleben einzubinden. »Es kam vor, dass wir gemeinsam ferngesehen oder Kaffee getrunken haben.« Doch die Missstände blieben: »Wir konnten unsere Tochter irgendwann nicht mehr ruhigen Gewissens in die Hände dieser Menschen geben«, sagt der 41-Jährige.
Viele Ausfälle seien das Eine gewesen, fehlendes Vertrauen das Andere – und zwar das weitaus Gravierendere. Andreas Wall: »Wir haben sogar den Spätdienst übernommen, um den Pflegedienst und die Pflegekasse zu entlasten. Obwohl wir ja eigentlich ein Recht darauf gehabt hätten.« Geld dafür habe es von der Pflegekasse nicht gegeben.
Kein Vertrauen mehr in Pflegepersonal
Die Eltern nennen Beispiele von Verfehlungen: Pflegerinnen, die während der Nachtschicht geschlafen oder stundenlang lautstark telefoniert haben. Als Anna-Lena eines Tages blau anlief, weil die Pflegerin den Hustenassistenten – ein Gerät, das Patienten mit Hustenschwäche beim Mobilisieren und Entfernen von Bronchialsekret unterstützt – mit dem Beatmungsschlauch verwechselte, sei eine weitere Zusammenarbeit undenkbar gewesen.
»Die Frau hatte keine Ahnung, was sie tat. Sie stand ratlos daneben, während meine Tochter keine Luft mehr bekam. Das kann nicht sein. Es geht um das Leben unserer kleinen Maus«, sagt Natalia Wall mit Tränen in den Augen. Seit diesem Vorfall lässt die 44-Jährige ihre Tochter nicht aus den Augen.
Anna-Lena wird am 25. August 2015 geboren. Neun Monate dachten alle, sie sei – wie ihre drei älteren Geschwister – ein kerngesundes Kind, sagt Andreas Wall. »Alle Befunde waren gut, es war nie etwas Auffälliges.« Bis zum Mai 2016: Das Mädchen aus Löhne wird mit hohem Fieber und einer Lungenentzündung ins Klinikum Herford eingeliefert.
Die Ärzte diagnostizieren die sehr seltene Stoffwechselkrankheit Morbus Pompe. Nur eins von 40.000 bis 150.000 Babys hat diesen Gendefekt. Die Krankheit greift sämtliche Muskeln im Körper an und zerstört sie. In Deutschland leben etwa 200 Menschen mit der Pompschen Krankheit, die nach dem niederländischen Pathologen Joannes Cassianus Pompe (1901–1945) benannt ist.
Er beschrieb 1932 erstmals die Symptome. Natalia Wall: »Für uns brach nach der Diagnose eine Welt zusammen.« Jeder noch so kleine Infekt kann für Anna-Lena zur tödlichen Gefahr werden. So wie im Februar 2017: Fünf Wochen kämpft sie damals im Uniklinikum Münster ums Überleben.
Muskeln werden zerstört
Dort leitet Prof. Dr. Thorsten Marquardt den Bereich Angeborene Stoffwechselerkrankungen in der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin. Der 56-Jährige ist Experte auf diesem Gebiet, mit dem er sich seit 30 Jahren befasst. Er behandelt Anna-Lena. Der Arzt erklärt: »In der Muskulatur wird bei jedem von uns Zucker abgelagert, der da nicht hingehört. Bei gesunden Menschen sorgt ein Enzym dafür, dass dieser Abfall beseitigt wird. Doch Anna-Lena fehlt dieses Enzym.«
Das Tückische: Ist der Muskel zerstört, besteht keine Chance auf Heilung – oder wie Prof. Marquardt es sagt: »Was weg ist, ist weg. Man kann die Zeit nicht zurückdrehen.« Die Patienten – sie entwickeln sich in der Regel geistig normal – seien im eigenen Körper gefangen.
Bei Anna-Lena hat die Krankheit die Beinmuskulatur bereits derart geschwächt, dass sie auf den Rollstuhl angewiesen ist. Und auch ihr Zwerchfell – der wichtigste Atemmuskel – funktioniert kaum noch. »Sie kann höchstens 20 Minuten am Stück ohne Hilfe atmen – an guten Tagen«, sagt Mutter Natalia Wall.
Eine Chance auf Heilung besteht nicht. »Und bis vor wenigen Jahren war jedes erkrankte Kind bis zum ersten Geburtstag tot, weil der Herzmuskel immer schwächer wurde«, sagt Prof. Marquardt. Mit dem Medikament Myozyme – das fehlende Enzym zum Zuckerabbau wurde gentechnologisch im Labor nachgebildet – kann der Krankheitsverlauf heute im günstigsten Fall gestoppt, üblicherweise verzögert werden.
Therapie kostet jedes Jahr 200.000 Euro
Allerdings ist die Therapie sehr teuer. Anna-Lenas wöchentliche Infusionen kosten mehr als 200.000 Euro jährlich. »Sie benötigt eigentlich die doppelte Dosis. Doch die Krankenkassen bezahlen nicht immer die optimale Behandlung«, bedauert Prof. Marquardt. Er hält sich mit einer Prognose zurück, sagt aber: »Anna-Lena hat sich gut gemacht.« Trotzdem wird sie wohl ihr Leben lang auf fremde Hilfe angewiesen sein.
Zu Beginn, sagt der Vater, habe er sich noch bei der Pflegedienstleitung über die Zustände beschwert. Die Antworten seien aber immer dieselben gewesen: »Wir haben keine Leute. Kündigen sie doch!« Das taten die Walls auch – und fahren nun in Sachen Betreuung eine andere Strategie. Statt erneut einen Pflegedienst zu engagieren, stellen sie eigenhändig Fachkräfte ein und rechnen mit der Pflegekasse ab. »Dadurch können wir selbst entscheiden, wer sich um Anna-Lena kümmert«, sagt Andreas Wall. Monatlich steht ein festes Personal-Budget zur Verfügung.
Doch was nützt all das Geld, wenn es keine Pfleger gibt? Die Personalsuche gestaltet sich schwierig. Vier Mitarbeiter wurden bereits eingestellt, drei Vollzeitstellen aber gilt es noch zu besetzen. »Wir suchen weiter händeringend«, sagt der Vater. So lange kümmert sich die Familie selbst um das Nesthäkchen. Eine stationäre Einrichtung für die Dreijährige, sagt Natalia Wall, sei nie ein Thema gewesen. »Wir werden nicht aufgeben. Das sind wir unserer Tochter schuldig. Sie ist eine große Kämpferin.«