Ein Leben auf der Straße – Weihnachten im Corona-Jahr 2020
“Die Bescherung hatte ich schon“
Kreis Höxter
Sein Zuhause ist die Straße. Wenn die Christen am 24. Dezember an die Geburt Jesu erinnern, der im Stall zur Welt kam, dann begeht Christian Richter in einer der Schutzhütten der Region seinen Heiligabend – ohne Lametta, goldigen Weihnachtskugeln oder einem üppig gedeckten Festtagstisch.
Um Christian Richter herum werden zwar auch Bäume stehen, die sind aber nicht festlich geschmückt wie die Tannen in den Wohnzimmern und mächtigen Gotteshäusern.
Der Wohnungslose wird Mineralwasser in einem mobilen Spirituskocher erhitzen und damit den löslichen Kaffee („Eine große Dose aus dem Discounter, die war jetzt günstig im Angebot“) im Becher aufbrühen. „Dazu gönne ich mir noch ein paar Stücke Marmorkuchen. Der hält sich länger“, weiß Richter.
Der bescheidene, eher zurückhaltende Mann mit Bart und Brille wird auch an den Weihnachtstagen wieder allein bleiben, mitten in der Natur – wie die Jahre zuvor.
Zu seinem Vater habe er seit langer Zeit keinen Kontakt mehr und seine Mutter, die kennt das ehemalige Heimkind, das nie ein richtiges Zuhause hatte, noch nicht einmal. Geschweige denn weiß er, ob die Mutter noch lebt und vielleicht sogar an ihn denkt.
Christian Richter muss sein Leben aus eigener Kraft meistern – ohne Geschwister, Eltern und Angehörige. „Meine Bescherung im Corona-Jahr – die hatte ich eigentlich schon“, verrät der Obdachlose, der im niedersächsischen Raum aufgewachsen und später ganz unterschiedlichen Aushilfsjobs nachgegangen ist. Er hält sich zu allen Jahreszeiten (ob es regnet, schneit oder die Sonne lacht) meist im Weserbergland und kleineren OWL-Städten auf.
Der 60-Jährige, der seinen besonderen Geburtstag im April ausnahmsweise mit ein paar Kumpels und Grillbratwürstchen feiern konnte, sitzt an diesem Tag im Advent, an dem sich das WESTFALEN-BLATT für ihn und seine Lebensgeschichte Zeit nimmt, wieder in der Höxteraner Fußgängerzone.
Angst vor dem Virus
Neben sich, vor einem geschlossenen Geschäft mit feinem Schmuck, hat er sein Fahrrad abgestellt, plus großem Anhänger. Darauf liegen ein Hut und eine Stofftasche mit dem Aufdruck „Frohe Weihnachten“.
Den Anhänger hat er erst vor wenigen Tagen als Weihnachtsgeschenk von einer Familie aus Höxter erhalten. „Da ist jetzt mein ganzer Hausrat drin. Ein zelt, Schlafsack und Isomatte gehören dazu, aber auch Pullover, Decken und trockene Ersatzklamotten.“ Alles hat er ordentlich gestapelt und jeder Griff sitzt.
Die Anschaffung des Hängers, das sei ein langgehegter Wunsch von ihm gewesen, der nun in Erfüllung gegangen ist. „Den hätte ich mir selbst nie leisten können. Ich freue mich täglich, eigentlich jede Minute darüber.“ Er sei froh, überhaupt über die Runden zu kommen. Das Leben „auf Platte“ sei nicht einfach. „Aber ich habe dennoch alles, was ich zum Überleben brauche. Und ich fühle mich irgendwie auch abgehärtet gegen normale Krankheiten“, sagt er. Dennoch: Vor dem Corona-Virus habe er Angst, benutzt ständig einen Mund-Nasen-Schutz, wenn er sich in den Innenstädten auf den Boden setzt und auf eine Spende hofft. Aggressiv betteln oder die Leute direkt ansprechen – das sei nicht sein Ding. „Wenn jetzt die Impfungen gegen Corona anfangen, dann würde ich in meinem Alter natürlich gerne dabei sein“, erzählt der Mann ohne festen Wohnsitz, der früher schon mal als Stadtstreicher oder Penner ausgegrenzt wurde.
Manchmal, wenn Christian Richter für sich allein ist, dann würde er schon intensiver darüber nachdenken, wie es ihm wohl in fünf oder zehn Jahren gesundheitlich geht. Und krankenversichert sei er sowieso nicht. „Wie auch – von welchem Geld?“ Derzeit lebe er optimistisch in den Tag hinein – und nur das zähle.
Auf massiven Alkoholkonsum setzen viele seiner Leidensgenossen – er nicht. „Ein Rausch macht die Alltagssorgen doch nicht kleiner, im Gegenteil“, betont Richter, der im Advent lieber einen heißen Kakao als einen Glühwein trinkt.
Hat sich durch Corona für ihn etwas verändert? Die Antwort kommt prompt. „Die Leute geben mehr Geld. Viele leben wohl in Kurzarbeit und haben Angst um ihre Existenz. Das Verständnis für meine Lage ist größer geworden“, schätzt Richter.
Der Obdachlose hatte jetzt sogar Besuch von der Polizei. Ein Beamter überreichte ihm einen Brief. „Darin war eine Geschenkkarte für einen Discounter im Wert von 20 Euro“, erzählt er – und lächelt zufrieden.
Startseite