Anwalt Peter Wüller vertritt vier mutmaßliche Missbrauchsopfer – mit Video
Die Akte Lügde: »Man möchte den Dreck nicht lesen«
Lügde (WB). Auf dem Campingplatz »Eichwald« in Lügde sollen missbrauchte Kinder gezwungen worden sein, an anderen Kindern schlimmste sexuelle Handlungen vorzunehmen. Diese Taten soll Andreas V. (56) gefilmt haben.
Eine entsprechende Aussage hat ein Kind bei der Kripo in Bielefeld gemacht, und die Angaben werden als glaubwürdig eingeschätzt. »Was in Lügde passiert ist, übersteigt jede Vorstellung«, sagt Rechtsanwalt Peter Wüller aus Bielefeld, der vier mutmaßliche Missbrauchsopfer vertritt.
Mehr als 1000 Seiten stark ist die Hauptakte, die die Ermittlungskommission »Eichwald« Anfang Mai an die Staatsanwaltschaft Detmold geschickt hat – außerdem eine weitere Akte für jedes mutmaßliche Opfer. In ihrem Abschlussbericht legt die Kripo dem Hauptbeschuldigten Andreas V. (56) aus Lügde den Missbrauch von 28 Opfern zur Last.
Sein Komplize Mario S. (34) aus Steinheim soll 18 Opfer missbraucht haben. Andreas V. soll zwar bereits vor fast 30 Jahren ein Mädchen missbraucht haben, aber dieser Fall kann wegen Verjährung nicht mehr verfolgt werden.
Verteidiger und Opferanwälte bekommen Akteneinsicht
In der vergangenen Woche gab die Staatsanwaltschaft Detmold den Verteidigern der Beschuldigten und den Opferanwälten zum ersten Mal Einblick in die Akten. »Es fällt schwer, die Aussagen der Kinder emotionsfrei zu lesen«, sagt Wüller. In der Akte seien auch Porträtfotos, die die Kripo von den Kindern gemacht habe. »Wenn ich mir die Gesichter der Kleinen ansehe und dann lese, was ihnen angetan wurde, wird mir schlecht«, sagt der Rechtsanwalt.
Wüller lobt die Arbeit der Ermittlungskommission: »Die Kinder sind einfühlsam und sehr geduldig befragt worden. Sie konnten zum Teil sehr detaillierte Angaben machen, und sie können problemlos zwischen den beiden Hauptbeschuldigten unterscheiden. Das ist wichtig. Wenn die Kinder ihre Aussagen im Prozess wiederholen, reicht das für Haftstrafen zwischen zwölf und 14 Jahren.« Es sei zwar gut, wenn die Staatsanwaltschaft weitere Beweise wie DVDs mit Kinderpornographie habe. Aber für entscheidend halte er solche Beweismittel nicht mehr, nachdem er jetzt die Aussagen der Kinder kenne.
Aus der Ermittlungsakte ergebe sich, dass Mädchen und Jungen auf alle nur denkbaren Arten vergewaltigt worden seien, sagt Wüller. »Auch mit Gegenständen. Man möchte den ganzen Dreck am liebsten nicht lesen, aber das ist es nun einmal, was den Kinder angetan wurde. Einige von ihnen sind so jung, dass sie sich nicht einmal alleine die Schuhe zubinden können.« Auch die missbrauchte frühere Pflegetochter des Hauptbeschuldigten war nach jahrelangem Missbrauch erst sieben, als der Mann im Dezember festgenommen wurde.
»Manche Kinder haben versucht, sich zu wehren«
Manche Kinder hätten versucht, sich verbal oder körperlich zu wehren, aber die Täter hätten nur selten nachgegeben, sagt Wüller. »Einer der Beschuldigen soll den Kindern mit Wohnwagenarrest gedroht haben. Das bedeutete, dass sie seinen Wohnwagen nicht verlassen durften, wenn sie nicht taten, was er wollte.«
Warum die Kinder in diesem Fall nicht damit gedroht hätten, ihren Eltern alles zu erzählen, weiß Wüller nicht. Es war aber wohl so, dass es zwischen den beiden Hauptbeschuldigten und den Eltern mancher Opfer enge freundschaftliche Bande gab. Und die einen oder anderen Elternteile, so ist von anderen Verfahrensbeteiligten zu hören, waren auch froh, sich nicht ständig um ihre Kinder kümmern zu müssen, und haben sie vielleicht auch deshalb bei Andreas V. und Mario S. übernachten lassen.
Während es vielleicht noch nachvollziehbar erscheint, dass Eltern ihre Kinder bei deren Freundin, der Pflegetochter von Andreas V., schlafen ließen, so stellt sich die Frage, warum Kinder auch bei Mario S. übernachten durften – einem alleinstehenden Mann ohne Kinder. Und es soll mindestens ein Opfer geben, das regelmäßig die Wochenenden bei Mario S. verbrachte.
Unter Druck gesetzt – oder belohnt
Die Mädchen und Jungen wurden aber nicht nur mit Wohnwagenarrest unter Druck gesetzt. Ein Mädchen hat ausgesagt, es sei hart angefasst worden, als es nicht habe mitmachen wollen. Und einem anderen soll gedroht worden sein, ein Geist werde es holen, wenn es über das Erlebte spreche. Oder die Kinder wurden belohnt – mit Eis, Spielzeug und Ausflügen.
Zu den über Jahre laufenden Verbrechen soll auch gehört haben, dass Kinder unter Druck gesetzt wurden, andere Kinder zu missbrauchen. Andreas V. soll die Kinder dabei dirigiert und die Taten gefilmt haben. Bei ihm wurden mehrere Videokameras und eine sogenannte Action-Kamera gefunden.
»Das Unvorstellbare ist die Selbstverständlichkeit, mit der das Missbrauchen von Kindern zum Alltag der beiden Hauptbeschuldigten gehörte. Aber eben auch zum Alltag der Opfer«, sagt Rechtsanwalt Wüller. »Man stellt es sich ja so vor: Ein Täter, ein Opfer, und im Zweifelsfall steht Aussage gegen Aussage. Aber so war es hier nicht. Es waren Kinder dabei, wenn andere Kinder vergewaltigt wurden. Sie mussten zusehen. Die Täter hatten offenbar überhaupt keine Angst davor, dass jemand mal auspacken könnte.«
Anklage soll diese Woche erhoben werden
Neben Andreas V. und Mario S. sitzt auch Heiko V. aus Stade in Untersuchungshaft. Er soll über einen Internetchat beim Kindesmissbrauch in Lügde zugesehen haben. Der Feuerwehrmann hat zugegeben, sich oftmals zwei, drei Stunden pro Tag Kinderpornografie im Internet angesehen zu haben. Der überwiegende Teil der im Fall Lügde sichergestellten Datenträger soll ihm gehören. Ein angebliches Angebot von Andreas V., seine Pflegetochter stehe auch ihm zur Verfügung, will V. abgelehnt haben.
Die Staatsanwaltschaft Detmold wird voraussichtlich in dieser Woche Anklage erheben. Auch wenn die Opfer in Lügde möglicherweise tausend Mal oder öfter missbraucht wurden – eine so monströse Zahl wird sich in der Anklageschrift kaum finden. Denn die Staatsanwaltschaft müsste in jedem Fall Ort und Zeit annähernd benennen, und das ist kaum möglich, wenn man auf Kinder als Zeugen angewiesen ist. Anwalt Peter Wüller sorgt das aber nicht: »Theoretisch reicht es, wenn sich jedes Kind nur an eine Tat erinnert, um die beiden Haupttäter für die nächsten 15 Jahre einzusperren.« Wobei er nicht ausschließe, dass den Männern nach der Haft Sicherungsverwahrung drohe. »Wer sich über Jahre oder Jahrzehnte an kleinen Kindern vergeht, ist ein Hangtäter und sollte nie wieder freikommen.«
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