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Erlebnis-Stadtführung „Zaubertrank und Aderlass“ in Lübbecke begeistert die Teilnehmer

Cholera statt Corona – eine Zeitreise

Lübbecke (WB). „Hebt die Röcke“, mahnt Hebamme Henriette die kleine Gruppe, die um sie herumsteht, „der Boden ist dreckig!“ Als ein Auto vorbeifährt, ruft sie: „Achtung, Kutsche!“, dann geht sie weiter, vorbei an Stadttor, Armenhaus und Heilig-Geist-Hospital, hin zum Anwesen der Familie Gerlach, die gerade ihr 13. Kind erwartet. Es ist der 18. Oktober 1835 und die Leute im Land sind in Aufruhr: Cholera geht um. Mit ihrer Geschichte ist Hebamme Henriette Teil der altertümlichen Erlebnis-Stadtführung „Zaubertrank und Aderlass“ – die gerade kaum aktueller hätte sein können.

Joscha Westerkamp

Krankenpflegerin Nolte (Ulla Karic) hält eine Ringelblume in der Hand, die sie selbst angebaut hat und bald dem Apotheker für eine Salbe verkaufen will. Die Erlebnis-Stadtführung bot Kostüm, Schauspiel und jede Menge Informationen. Foto: Joscha Westerkamp

Zehn Personen haben am Sonntag an der Führung teilgenommen, die stadtgeschichtliches Wissen in überaus amüsantem Schauspiel verpackte. Schon bald erfahren die Besucher: Wegen der Cholera werden sie heute leider nicht vom neuen Wunderelixier des Physikus’ kosten dürfen. Schwierig wird es auch haben, wer aus einem Risikogebiet kommt – denn der musste sich 1835 gleich bei der Polizei melden und wurde wieder zurückgeschickt, ohne beherbergt zu werden. Cholera-Tests gab es beim Stadtphysikus; sogar für Leichen, um die Infektionsketten nachzuvollziehen.

Den Anfang der Führung übernimmt die Krankenpflegerin Nolte, die Frau eines Totenwächters, die sofort lebhaft in die Geschichte einsteigt und die Besucher 200 Jahre in die Vergangenheit versetzt. Nolte zeigt auf ein kleines Gebäude neben dem Rathaus (heute Mediothek) und erklärt, dort wohne sie; eine Etage unter einem Krankenhaus, in dem sie arbeite. Im Garten baut sie zudem Kräuter an, die sie später an den Apotheker verkauft. „Ich habe gerade einen jungen Mann, dem es ganz schlecht geht“, sagt sie den Besuchern. „Ich muss jetzt dringend zum Apotheker!“

Schokolade als Heilmittel

Dann nimmt sie die Gruppe mit, der Apotheker wartet schon. Er steht am Gänsemarkt, direkt gegenüber der Ratsapotheke (heute etwa Immobilienbüro und Döner-Restaurant). Was für ein Glück: Der Apotheker hat gerade das perfekte Mittel für den jungen Mann; eine ganz spezielle Schokolade. Wenig später kommt Hebamme Henriette dazu, und auch ihr kann der Apotheker direkt ein paar perfekte – wenn auch nicht ganz preiswerte – Mittelchen empfehlen. Währenddessen bietet der Apotheker den Besuchern einen tiefen Einblick in seinen Beruf und die damalige Art der Medizin. Weiter führt Hebamme Henriette die Besucher auf ihrem Weg zu Familie Gerlach und berichtet dabei ausführlich über die Erweiterung der Stadtgrenzen, den Abriss der Stadtmauern, verschiedene „Schandflecke“ am Rande der Stadt (wie etwa dem Armenhaus oder dem Heilig-Geist-Krankenhaus) und Probleme, die durch sieben verschiedene Mühlen in der Stadt entstehen.

Genau beschreibt sie, womit sie ihr Geld verdient und wie eine Geburt- und Taufzeremonie zu damaliger Zeit vonstatten ging. Und natürlich werden auch die abergläubischen Weisheiten wie „Reiche ein Baby nie durchs Fenster!“ mitvermittelt. Am Haus der vermögenden Familie Gerlach angekommen (übrigens noch heute ein auffallend schönes Fachwerkgebäude), eilt die Hebamme zur Geburt – und Stadtphysikus Doktor Johann Hackspiel übernimmt.

Er gibt den Zuschauern Einblicke in die aktuelle Cholera-Lage. Vorbeigeführt am alten Friedhof (heute Vorplatz der St. Andreas Kirche) leitet er die Zuhörer zur Kirche, sagt etwas über die unterschiedlichen Eingänge, die Inschriften der Wand sowie die Leichname, die davor gelagert wurden und die er als Doktor alle zu prüfen hat. Anschließend öffnet der Physikus seine Tasche und zeigt die wichtigsten Instrumente seines Berufs: unter anderem ein Blutgefäß für Aderlasse, ein paar wertvolle Elixiere aus England und zwei neuere Erfindungen – eine feine Spritze und ein kleines Thermometer.

Das alte Lübbecke wurde wieder lebendig

Knapp anderthalb Stunden dauerte die Stadtführung. Liebevolle Kostüme ließen die Charaktere und das alte Lübbecke vor den Augen der Besucher auftauchen, die nicht nur gut gelaunt, sondern auch mit einer großen Menge an Stadtwissen wieder nach Hause gehen konnten. Seit Juni gibt es die Stadtführungen nach einer Corona-Pause wieder zwei- bis dreimal pro Monat, allerdings mit einer maximalen Teilnehmerzahl von zehn Personen und nur draußen.

Erlebnisführungen mit Kostüm und Schauspiel seien immer etwas Besonderes, sagen die Veranstalter. „Wir haben noch zwei weitere Erlebnisführungen. Eine über das mittelalterliche Geschehen am Marktplatz, die andere über Lübbecke zur Kaiserzeit. Alles andere machen wir aber in Zivil“, sagt Erika Müller, die seit fast zwölf Jahren Stadtführungen in Lübbecke gibt und die Hebamme gespielt hat.

Alle Stadtführer sind ehrenamtlich tätig. Zum Stadtführerteam gehören neben Erika Müller auch Uwe Feldmann (spielte den Apotheker), Ulla Karic (spielte Krankenpflegerin Nolte) und Bernhard Kostka (spielte den Physikus). „Wir würden uns besonders über Nachwuchs für unser Team freuen“, sagt Erika Müller. „Wer Interesse hat, kann sich einfach im Rathaus oder beim Stadtmarketing melden.“ Die nächste Stadtführung ist am 1. November; dann geht es um Familiengräber auf dem Lübbecker Friedhof.

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