Palliativmediziner: Menschen sollten rechtzeitig darüber nachdenken, welche Maßnahmen sie möchten
„Nicht bis zuletzt warten“
Bad Lippspringe (WB)
Im April 2020, als der Höhepunkt der Coronakrise noch bevorstand, wurde einem 80-jährigen Mann, der unter hohem Fieber litt, von seinem Hausarzt ein Formular vorgelegt, mit dem er erklären sollte, ob er sich im Falle des Falles reanimieren und künstlich beatmen lassen wolle.
Der Arzt meinte, jetzt sei der richtige Zeitpunkt, dem armen Menschen eine so schwerwiegende Entscheidung abzuverlangen.
Ende 2020 hörte man dann aus Sachsen von angeblichen Entscheidungskonflikten, denen Ärzte ausgesetzt gewesen sein sollen. Wen soll man leben lassen? Was sind gute Entscheidungsgrundlagen?
Häufig müssen Ärzte Verantwortung übernehmen, die an Zumutung grenzt. Im Falle von Corona-Patienten heißt das abzuwägen, wer bei chronischen Ressourcenmängeln wie behandelt wird. Indiskutabel erscheint eine Bevorzugung nach Alter, Geschlecht, Ethnie, Beziehungen oder Zahlungsfähigkeit.
Zu einer ärztlichen Entscheidung gehören die medizinische Indikation und der Patientenwille. Jeder Patient hat das Recht, eine medizinische Maßnahme abzulehnen. Möchte er sich nicht behandeln lassen, darf die Therapie nicht stattfinden – und sei sie noch so sinnvoll. Voraussetzung: eine umfassende Aufklärung über das Für und Wider der Maßnahme.
Der Patientenwille wird gemeinhin zwar sehr hochgehalten, doch in Wirklichkeit wird er in der Medizin oft nicht berücksichtigt. Das ist besonders dann tragisch, wenn unsinnige medizinische Indikationen gestellt werden, wie etwa die dritte oder vierte Serie Chemotherapie bei unheilbarem Krebs, von der man wissen müsste, dass sie das Leben zumeist nicht verlängert und das Wohlbefinden nicht steigert, die das Leben unter Umständen sogar verkürzt. Oder etwa die künstliche Ernährung durch eine Magensonde bei einem Patienten mit fortgeschrittener Demenz, der das Essen eingestellt hat.
Damit Menschen nicht gegen ihren Willen behandelt werden und man Krankenhauseinweisungen vermeidet, hat man in den 70er Jahren in der USA „advance care planning“ (vorausschauende Gesundheitsplanung) eingeführt. Auch in Deutschland gibt es die Überlegung, in strukturierter Art und Weise durch Ehrenamtliche oder Profis in Pflegeheimen oder anderenorts nach den Lebensvorstellungen, Lebenszielen sowie Behandlungswünschen zu fragen und am Ende im Rahmen mehrerer Gespräche eine Grundlage für Entscheidungen unter bestimmten Bedingungen zu haben. Dazu gehören Situationen wie die plötzliche Verschlechterung des Allgemeinzustandes durch eine akut aufgetretene Krankheit wie ein Schlaganfall, zum zweiten die vorausschauende Planung, wie bei einer chronisch fortschreitenden lebensverkürzenden Krankheit zu verfahren sein soll, wie auch drittens das Prozedere bei einer Erkrankung, die eine dauerhafte Pflege und Beatmung bei Bewusstseinsverlust mit sich bringt.
Es liegt auf der Hand, dass solche Gespräche nicht nur Einfühlungsvermögen und Kompetenz erfordern, sondern eines Prozesses bedürfen, um Menschen in Ruhe Gelegenheit zu geben, sich Gedanken zu machen.
Inhaltlich beschäftigen sich diese Gespräche mit Werten, Grundhaltungen, Zielen und hypothetischen Szenarien. Ziel ist es, zu einer Entscheidungsfindung zu gelangen, was voraussetzt, dass der Patient dazu in der Lage und willens ist.
Durch aufsuchende Gesprächsangebote möchte man auf Heimbewohner und alle anderen, die es betrifft, zugehen und sie einladen sich mit dieser Thematik zu beschäftigen. Im Rahmen einer qualifizierten Gesprächsbegleitung möchte man ein Gefühl für die Lebenseinstellung gewinnen und auch für die Bereitschaft, das Sterben zuzulassen oder ihm etwas entgegenzusetzen. Eine weitere Frage könnte sein, was die Medizin dazu beitragen solloder darf, um das Weiterleben zu ermöglichen oder gesundheitliche Krisen zu überstehen. Inakzeptable Belastungen oder Risiken sollen benannt und Bedingungen der Umsorgung präzisiert werden.
Alle diese Punkte erfordern Zeit und Empathie, Wissen, Fertigkeiten und Fähigkeiten der Gesprächsbegleiter und können nicht in fünf Minuten bewältigt werden. Obwohl die Finanzierung im Hospiz- und Palliativgesetz festgeschrieben ist, ist es in Deutschland bislang in keiner Weise zu einem flächendeckenden „advance care planning“ gekommen.
Fraglos wachsen gegenwärtig Akteure unseres Gesundheitswesens über sich hinaus und arbeiten bis zur Erschöpfung, um Coronavirus-Infizierte zu versorgen. Das deutsche Gesundheitswesen ist an dieser Stelle Weltklasse. Zugleich ist der Medizinbetrieb grundsätzlich wirtschaftlichem Druck unterworfen, sodass unweigerlich auch Fehlanreize entstehen.
Die Coronakrise bietet die Chance jetzt neu zu denken, Schwächen auszumerzen und Stärken zu bewahren.
Es zeigt sich eindrücklich, wie wichtig motiviertes und ausreichend vorhandenes Pflegepersonal ist. Es hat Vorteile, in Einrichtungen versorgt zu werden, in denen Erfahrung mit Beatmungspatienten vorliegen.
Für Patienten bedeutet es, durch ihre Hausärzte in ruhigen Zeiten „advance care planning“ zu betreiben, sich also um Vorsorgevollmachten und Patientenverfügungen zu kümmern. Seit 2009 verlangt der Gesetzgeber, dass sich die Vorsorgeverfügung auf Behandlungen bezieht, die nicht unmittelbar bevorstehen. Der Patient soll seine Entscheidung in Ruhe abwägen können. Hierbei kann es sinnvoll sein, zusätzlich zur normalen Patientenverfügung einen Notfallplan zu erstellen, in dem eindeutig dokumentiert wird, welche Behandlungen noch erfolgen sollen und welche nicht. Dies kann sicherstellen, dass auch in Situationen, in denen Ärzte nicht lange Zeit zum Überlegen haben, keine ungewollte Therapie stattfindet.
Dabei gibt es im Grundsatz drei Optionen: Entweder sollen alle medizinisch sinnvollen Maßnahmen zur Lebensverlängerung ergriffen werden, oder ich lehne diese Maßnahmen ab und wünsche ausschließlich eine palliativmedizinische Begleitung. Oder ich lege differenziert fest, unter welchen Umständen ich was erhalten möchte. In der Pandemie gerät man an seine Grenzen. Häufig bestehen Besuchsverbote, und Menschen, die für den Patienten den mutmaßlichen Willen mitteilen sollen, wird der Zutritt verweigert.
Aus all diesen Gründen ist es wichtig, im Vorfeld bestimmte Dinge für sich entschieden zu haben, damit so etwas wie bei dem eingangs genannten 80-jährigen fiebrigen Patienten, der unvorbereitet zu einer Entscheidung genötigt wurde, nicht passiert.
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