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Gehörlose sind aufs Lippenlesen angewiesen und stoßen beim Mundschutz an Grenzen

Schutzmaske wird zur Sprachbarriere

Borchen (WB). Mit Mund-Nase-Schutz verschmiert der Lippenstift, juckt die Nase oder beschlägt die Brille. Über Sorgen wie diese kann Stefanie Schmidt nur lächeln. Die 37-Jährige ist gehörlos. Für sie und andere Hörbehinderte ist die Maske bei der Begegnung mit Hörenden eine echte Sprachbarriere.

Dunja Delker

Bin taub, brauche Mundbild: Mit diesem Mund-Nasen-Schutz weist Stefanie Schmidt (37) darauf hin, dass sie gehörlos und eigentlich auf das Lippenlesen angewiesen ist. Die Tücher können bei der Paderbornerin bestellt werden.

An einen Notfall mag die Borchenerin nicht denken. „Ich könnte Polizei oder Rettungsdienst gar nicht verstehen, weil der Mund verdeckt ist und ich nicht von den Lippen ablesen kann“, sagt Stefanie Schmidt. Und angesichts der Ansteckungsgefahr wegen des Coronavirus dürften die Helfer ihren Mund-Nasen-Schutz natürlich auch nicht abnehmen.

Sprache lebt von Handzeichen, Mimik und Gestik

In Deutschland gibt es etwa 80.000 gehörlose Menschen (NRW: 17.000) und 16 Millionen Schwerhörige (200.000 in NRW). Etwa 90 Prozent der Gehörlosen bekommen hörende Kinder. Sie nennt man Coda (Children of deaf adults, Kinder tauber Eltern).

Die Zahl derer, die zu 100 Prozent taub sind, geht angesichts neuer Technik zurück. So lässt sich durch das Neugeborenenen-Screening die Taubheit früh feststellen, so dass Ärzte durch ein Coch­lear-Implantat (CI) gegensteuern können. Diese Hörprothese, die auch Stefanie Schmidt vor zehn Jahren erhalten hat, unterstützt das Sprachverstehen. Wie gut die Wahrnehmung der Betroffenen ist, hängt unter anderem von der Ertaubungsdauer, der Sprachkompetenz, dem Zustand der Hörnerven oder der Motivation des Patienten ab.

Gehörlose unterhalten sich in der Deutschen Gehörlosensprache (DGS) – einer Gebärdensprache, die in Deutschland erst seit 2002 anerkannt ist. Sie ist nicht international, hat eine eigene Grammatik oder auch Dialekte und lebt neben den Handzeichen von Mimik, Gestik und dem Mundbild. Deswegen ist der Mund-Nasen-Schutz für ihre Nutzer ein zusätzliches Handicap.

Selbstverständlich trägt Stefanie Schmidt eine Schutzmaske. Sie hat eine eigene Version entworfen, auf der zu lesen ist: „Bin taub, brauche Mundbild!“ So macht sie auf ihr Handicap aufmerksam, und erntet keine große Verwunderung, wenn sie anschließend Zettel und Stift zückt, um sich mit ihrem Gegenüber austauschen zu können. Schließlich ist auch sie, die ohnehin nicht einwandfrei sprechen kann, schlechter zu verstehen.

Bitte mit Sichtfenster

Im Alltag lassen sich die Probleme mit dem Mundschutz also mit kleinen Hilfsmitteln überbrücken. Gesundheit geht schließlich vor. Deswegen geht ihr der Verzicht auf die Maskenpflicht für taube Menschen wie in Baden-Württemberg zu weit. „Das hilft nicht, wenn der Gesprächspartner trotzdem eine Maske trägt und ich ihn nicht verstehen kann.“

Doch an Rettungskräfte, Polizei oder Ärzte appelliert die Mutter von zwei hörenden Kindern (zwölf und 14 Jahre alt), dass sie entweder einen Mundschutz mit Sichtfenster oder durchsichtige Gesichtsmasken tragen sollten.

Stefanie Schmidt war 19 Jahre beim Malteser-Hilfsdienst aktiv, sogar als Gruppenleiterin. Heute engagiert sich die Hauswirtschafterin als Brückenbauerin zwischen tauben Menschen und Hörenden.

Sie gibt für Kinder und Erwachsene Erste-Hilfe-Kurse in Gebärdensprache, erklärt ihnen den Umgang mit einem Defibrillator oder einer Notfall-App, mit der sie schnell und einfach Polizei oder Feuerwehr rufen können, ohne zu telefonieren. In der Spracherkennungs-App „Ava“, die die Kommunikation zwischen Hörenden und Gehörlosen erleichtern soll, gibt Stefanie Schmidt ebenfalls „Nachhilfe“.

Kurse und Vorträge

Sie bietet ein Hilfetelefon für Frauen an, die Opfer von Gewalt geworden sind, oder hält Vorträge zum Thema Demenz und Alzheimer – und das nicht auf rein freier Basis, sondern als Mitarbeiterin eines Unternehmens, das Kurse aus dem Bereich Notfallmedizin und Medizinprodukte für Hörende anbietet.

Derzeit macht sie eine Fortbildung im Bereich Anatomie und Physiologie, um noch besser Bescheid zu wissen, denn: „Es gibt viele Kurse oder Vorträge für Taube, die durch einen Gebärdensprachdolmetscher übersetzt werden. Doch ich als Gehörlose kann viel besser auf die Sprache und Bedürfnisse meiner Zuseher eingehen“, erklärt Stefanie Schmidt.

Corona-Sorgentelefon

Die Borchenerin hat sich mittlerweile ein Netzwerk im deutschsprachigen Raum aufgebaut und bietet ihre Dienste auf der Homepage www.steffis-dgs.de (DGS = D eutsche G ebärden s prache) an. Dort gibt es nicht nur einen Überblick über ihre Kurse und Vorträge, sondern auch einen Shop mit dem genannten Mund-Nasen-Schutz und leuchtend-gelben Warnwesten mit dem Hinweis „taub – bitte Blickkontakt, langsam und deutlich sprechen“.

Derzeit setzt sich die Erste-Hilfe-Ausbilderin in besonderem Maße mit dem Coronavirus auseinander und hat den Test gemacht: „Was tun wir Gehörlose, wenn wir bei uns eine Infektion vermuten?“ Beim Arzt, im Krankenhaus oder beim Gesundheitsamt anzurufen ist nicht möglich und einen Notruf abzusetzen nicht nötig. Gesundheitsamt, Inklusionsbeauftragte und Ärzte – sie alle hätte kein Problem gesehen oder es nicht verstanden. Jetzt hat sie die Facebook-Gruppe „Covid-19 für Hörgeschädigte und DGS im Kreis Paderborn gegründet!“

„Ich möchte Tauben mehr Sicherheit und Selbstbewusstsein geben“, sagt Stefanie Schmidt. Deswegen bietet sie mit dem Arbeiter-Samariter-Bund Witten ein Corona-Sorgentelefon an. Am 20. Mai ist sie von 10 bis 14 Uhr über Whatsapp-Video unter der Nummer 0172/3910219 erreichbar.

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