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Hungerwinter 1946: Weihnachten feiern in harten Zeiten – Paderborner Zeitzeugen erinnern sich

Als jedes Stück Holz ein Schatz war

Paderborn

Wer seinen Kindern heutzutage zu Weihnachten einen Apfel schenkt, erntet ungläubige Blicke. Mehr nicht! „Aber für uns war das etwas Besonderes“, erinnert sich Fritz Koch an seine Kindheit vor mehr als 70 Jahren. Er gehört zu den Zeitzeugen, die noch von Weihnachtsfesten unter ärmlichen Bedingungen und in eisiger Kälte berichten können.

Dietmar Kemper

Jost Wedekin (r.) zeigt eine Akte über einen Einbruch in ein Paderborner Geschäft unmittelbar nach Kriegsende. Wilhelm Grabe (l.) leitet das Stadt- und Kreisarchiv Paderborn. Foto: Jörn Hannemann

Die Corona-Pandemie zwingt die Paderborner, das Weihnachtsfest anders zu feiern: kleiner als sonst, ohne das „Stille Nacht, heilige Nacht“ in der Kirche mitzusingen und auch nicht an einem Urlaubsort in schneebedeckten Bergen. Aber hungern und frieren muss niemand. Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg und vor allem im sogenannten Hungerwinter 1946/1947 war das anders. Damals ging es ums nackte Überleben.

Kleinkinderspeisung in der Heiersburg in Paderborn: Die Aufnahme entstand im Frühjahr 1948. Foto: Kreis- und Stadtarchiv Paderborn

„Es war sehr kalt, und es gab viel Schnee“, blickt Fritz Koch zurück. Bei Temperaturen von bis zu minus 20 Grad war warme Kleidung ein Schatz. „Ich hatte von meinem Onkel aus Amerika eine ganz dicke Jacke bekommen, die erregte Neid“, weiß der 83-Jährige noch, der damals mit seiner Familie in der Gaststätte Schöne Aussicht wohnte.

Auch Jost Wedekin war für jedes Stück Holz, das Wärme erzeugte, dankbar. Er erzählt: „Ohne das Buchenholz, von dem uns jährlich einmal, in dem eiskalten und lang dauernden Winter 1947 sogar dreimal etliche Festmeter in den Wäldern bei Eggeringhausen zugeteilt wurden, hätten wir diese grimmige Winterzeit wohl kaum ohne Frostschäden überstanden.“ Die Stämme und Äste musste die Familie abholen, zersägen und mit der Axt zerkleinern. Jost Wedekin: „Das Brennholz, so sagte mein Vater später, hat uns dreimal erwärmt: einmal, als wir es mit unserem Handwagen aus dem Wald holten, dann, als wir es zerkleinern mussten, schließlich – und das sei die beste Wärme gewesen – beim Verfeuern der Holzscheite im Küchenofen.“

Nachdem die Familie zuvor in der Nähe des ehemaligen Abdinghofklosters gewohnt hatte und satt durch den Krieg gekommen war, änderte der Bombenangriff auf Paderborn am 27. März 1945 alles. Die Familie wurde ausgebombt, flüchtete aus Paderborn. Nach ihrer Rückkehr kam sie erst bei einem Onkel und später in einer Notwohnung unter. Beheizt wurde nur die vier Quadratmeter kleine Wohnküche, das 16 Quadratmeter große Schlafzimmer für vier Personen dagegen nicht: „Eine dicke Eisschicht auf den Fensterscheiben, die so genannten Eisblumen, verhinderte wintertags jeglichen Blick nach außen.“ Im Gymnasium Theodorianum kapitulierten die Öfen in den großen Klassenzimmern schon Anfang November 1946 vor der Kälte. Manchmal gab es kältefrei. Zum Aufwärmen hatte die Caritas im Kaufhaus Klingenthal eine Wärmehalle eingerichtet.

Eine Lebensmittelkarte aus der Nachkriegszeit. Foto: Jörn Hannemann

Um Vorräte aufzustocken, sammelte Jost Wedekin in Paderborns Wäldern Bucheckern. Für zehn Pfund gab es einen Liter Öl. Im Sommer hieß es, an den Winter zu denken. Josts Mutter verstaute Obst und Gemüse aus dem Garten an der Karlstraße in hunderte Gläser, hortete Kartoffeln und machte Gurken, Möhren und Sauerkraut in Steintöpfen winterfest. Im Hungerwinter 1946/1947 war das Gold wert. Weil es zu wenig Kohlen gab, Weichen vereist waren und Schneewehen die Weiterfahrt verhinderten, brachten Güterzüge seltener Lebensmittel nach Paderborn. Jost Wedekin: „Geschäfte blieben tagelang geschlossen, da es nichts zu verkaufen gab. Und wenn sie doch geöffnet hatten, war oft nur Weißkohl, vielleicht auch etwas Rübenkraut, „Peckeleck“ genannt, im Angebot. Auch Brot war in Paderborn manchmal rar.“

Meist gab es nur Maisbrot, nicht vergessen hat der 85-Jährige die so genannte „Holzwurst“. Sie habe mehrheitlich aus einem gezüchteten Schimmelpilz bestanden, ausgesehen und gerochen wie Leberwurst, aber geschmeckt wie Sägemehl. Wenn Wedekin über die harte Zeit nachdenkt, findet er auch einen positiven Aspekt: „Ich habe gelernt, mit den vorhandenen Ressourcen sparsam und verantwortungsbewusst umzugehen.“

Es waren dunkle Zeiten, und das Brot war es auch. „Warte Gerda, irgendwann gibt es wieder Brot, das so weiß ist wie diese Tischdecke“, erinnert sich Gerda Böddeker an eine Prophezeiung ihres Vaters, die ihr unvorstellbar erschien. Der Vater hatte Stuten vor Augen und Trümmer unter den Füßen. Paderborn war 1945 zerstört. „Es kam nie ein Auto über die Königstraße gefahren – erst als der Schutt weggeräumt war“, erzählt Gerda Böddeker, heute 84 Jahre alt. Die vierköpfige Familie lebte in einem Zimmer des stark beschädigten Hauses, das der Opa gebaut hatte. Vom Balkon nach unten ging es nur mit einer Leiter. Für einen Weihnachtsbaum war das Zimmer zu klein, gefeiert wurde trotzdem. Bruder Bernhard bekam beim ersten Weihnachtsfest in Frieden einen Schlitten, Gerda eine Puppe. „Das war das Allertollste“, sagt sie und denkt auch noch an die stimmungsvolle Weihnachtsmusik rund um die Herz-Jesu-Kirche. „Wir hießen „Trümmerkinder“, aber wir waren wirklich glücklich. Wir hatten die Pader, in der wir Stichlinge gefangen haben.“ Für die Eltern sei die Zeit mit Sicherheit hart und entbehrungsreich gewesen, „aber uns Kindern haben sie es so schön gemacht, wie es ging.“ Gerda Böddekers Vater war Schuhmacher und Fotograf. Ihm verdankt das Stadt- und Kreisarchiv viele Aufnahmen aus der Zeit des beginnenden Wiederaufbaus. Aus einer Zeit, in der ein Apfel, den Fritz Koch von seinem Opa an Weihnachten geschenkt bekam, etwas Besonderes war.

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