Wie ein Marokkaner ohne Bleibeperspektive fast vier Jahre in NRW verbrachte
Die Geschichte einer Abschiebung
Paderborn (WB). Seit Jahren versprechen Politiker, abgelehnte Asylbewerber schneller abzuschieben. Hier lesen Sie anhand einen Falles aus NRW, wie die Wirklichkeit aussieht. Die Informationen stammen aus Gerichtsakten.
April 2014: Der Mann reist nach Deutschland ein und stellt in NRW einen Asylantrag. Er gibt an, aus Algerien zu stammen. Während sein Fall bearbeitet wird, fällt der Nordafrikaner der Polizei als Drogenhändler und Räuber auf. Die Staatsanwaltschaften Köln und Dortmund ermitteln.
Mai 2016: Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge trifft keine Entscheidung über den Asylantrag, sondern stellt das Verfahren ein. Ein Mitarbeiter eines Ausländeramtes: »Das geschieht in der Regel, wenn der Betroffene nicht am Verfahren mitwirkt, also zum Beispiel nicht zur Anhörung erscheint oder nicht dabei hilft, seine Identität festzustellen.«
Das Bamf fordert den Mann auf, innerhalb einer Woche auszureisen. Sonst werde er nach Algerien abgeschoben. Er besitzt aber angeblich keine Papiere. Deshalb bekommt er eine Duldung. »Duldung bedeutet, dass jemand ausreisen muss, dass die Ausreise aber erst einmal ausgesetzt ist – zum Beispiel wegen Krankheit, oder weil Papiere fehlen«, erklärt der Beamte des Ausländeramts.
Kein Kontakt
August 2016: Der mutmaßliche Algerier verweigert seine Mitarbeit bei der Beschaffung neuer Papiere. Der Beamte: »Betroffene sind verpflichtet, bei ihrem Konsulat oder ihrer Botschaft vorzusprechen und sich Reisepapiere zu besorgen. Zum Beispiel ein sogenanntes Laissez-passer – einen Passierschein, um ins Heimatland einzureisen.« Oft organisierten die Ausländerämter die Fahrten zu den Botschaften. »Manchmal mit Bussen.« Parallel würden auch die Ausländerämter bei den Auslandsvertretungen in Deutschland versuchen, Papiere für den abgelehnten Asylbewerber zu bekommen. »Je nach Land bleiben unsere Schreiben aber auch schon mal unbeantwortet. Manche Länder wollen die Betroffenen gar nicht zurücknehmen.«
Oktober 2016: Die Behörden haben keinen Kontakt mehr zu dem Nordafrikaner. Er ist seit längerem nicht mehr in seiner Unterkunft aufgetaucht, und das Einwohnermeldeamt meldet ihn ab: »Fortzug nach unbekannt«. Wovon er lebt ist unklar.
Keine Reisepapiere
März 2017: Der Mann kommt überraschend zum Ausländeramt, um seine Duldung verlängern zu lassen, und wird festgenommen. Er wird in die Abschiebehaftanstalt nach Büren im Kreis Paderborn gebracht, wo er drei Monate bleiben soll.
Juni 2017: Weil noch immer keine Reisepapiere vorliegen, verlängert das Amtsgericht Paderborn auf Antrag der Ausländerbehörde die Sicherungshaft bis September.
Herbst 2017: Das algerische Generalkonsulat teilt den Behörden mit, dass der Betroffene überhaupt kein Algerier ist. Daraufhin wendet sich das Ausländeramt an Tunesien und Marokko. »In solchen Fällen kann man oft nur intuitiv vorgehen und es in Nachbarländern versuchen«, sagt der Ausländeramtsmitarbeiter. Oder man gebe ein Sprachgutachten in Auftrag, das möglicherweise einen landestypischen Dialekt aufdecke.
Keine Ausreise
Oktober 2017: Das Ausländeramt bekommt die Mitteilung, dass die Identität geklärt sei: Der Mann komme aus Marokko. Das Amtsgericht verlängert die Sicherungshaft auf Antrag bis Dezember, damit die Abschiebung organisiert werden kann. Der Experte: »Diese Anträge auf Verlängerung der Haft sind kompliziert und die rechtlichen Anforderungen sehr hoch. Es kommt vor, dass ein Antrag vom Gericht abgelehnt wird.«
November 2017: Marokkos Generalkonsulat stellt einen Passierschein aus, und die NRW-Zentralstelle für Flugabschiebung bucht für Ende des Monats einen Linienflug für den Marokkaner. Doch die Ausreise am 30. November scheitert auf dem Flughafen am Widerstand des Mannes. Der Mitarbeiter eines Ausländeramts: »Beim ersten Mal wird versucht, Flüchtlinge unbegleitet mit Linienmaschinen abzuschieben. Darauf bestehen die meisten Herkunftsländer. Es reicht aber, wenn ein Flüchtling schreit oder laut singt, damit der Flugkapitän die Mitnahme ablehnt.« Beim zweiten Versuch nehme man Polizisten mit ins Flugzeug. Und wenn auch das nicht helfe, werde beim dritten Mal ein Charterflug aus Flüchtlingen und Bundespolizisten zusammengestellt. »Aber das ist sehr teuer.«
Keine Beschwerde
Dezember 2017: Das Ausländeramt beantragt bei der Bundespolizei einen Flug mit Polizeibegleitung und beim Gericht eine Verlängerung der Sicherungshaft. Das Amtsgericht Paderborn hört den Marokkaner mit Hilfe eines Dolmetschers an und verlängert die Haft bis Februar. Der Marokkaner bezeichnet es vor Gericht als »Schweinerei«, dass er zurückgeschickt werden solle. Er lässt seinen Anwalt Beschwerde gegen den Beschluss einlegen. Es sei nicht bewiesen, dass ihn der Bescheid des Bamf 2014 erreicht habe. Außerdem sei ihm der Antrag zur Haftverlängerung zu spät übersetzt worden.
Januar 2018: Die Behörden organisieren einen Flug mit Polizeibegleitung für den 9. Februar und beantragen bei den marokkanischen Behörden einen Passierschein mit den neuen Flugdaten. Der wird ausgestellt.
Februar 2018: Das Landgericht Paderborn hört den Marokkaner mit Hilfe eines Dolmetschers erneut an und lehnt seine Beschwerde ab. Diesmal klappt die Abschiebung per Flugzeug – fast vier Jahre nach der Einreise.
235,72 Euro pro Tag
Dolmetscherkosten, Gerichtsgebühren, Personalkosten, die Flugtickets – nach dem Aufenthaltsgesetz muss der Marokkaner alle Kosten seiner Abschiebung tragen. Allein für die Sicherungshaft in Büren sind das mehr als 70.000 Euro (235,72 Euro pro Tag). Doch diesen Anspruch wird das NRW-Flüchtlingsministerium wohl kaum durchsetzen können.
Der Marokkaner ist abgeschoben. 71.000 ausreisepflichtige Flüchtlinge leben noch in NRW.
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