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Paderborner Wracktaucher Uli Baumhör machte im Sperrgebiet Unterwasseraufnahmen für norwegische Filmfirma

Umstrittene Expedition zur „Estonia“

Paderborn

„Wir sind rund um die Uhr beobachtet worden“, erinnert sich Uli Baumhör (57) und ergänzt: „Uns allen war klar, dass wir möglicherweise massiv behindert, kontrolliert und festgesetzt werden konnten.“

Dietmar Kemper

Das weltweite Medieninteresse an seiner Expedition zur „Estonia“ hat Uli Baumhör überrascht. Rechts ist sein Schiff, die „MS Fritz Reuter“, zu sehen. Foto: Jörn Hannemann

Den Argwohn Schwedens hatte der Paderborner Taucher im September 2019 dadurch auf sich gezogen, dass er mit seinem Expeditionsschiff „MS Fritz Reuter“ zur Unglücksstelle der „Estonia“ aufgebrochen war, um dort Unterwasseraufnahmen zu machen. Abgeschlossen ist die Geschichte erst seit wenigen Tagen. Am 8. Februar sprach ein Gericht in Göteborg zwei schwedische Filmemacher aus der Crew von Uli Baumhör von dem Vorwurf frei, die Ruhe der Toten im Schiffswrack gestört zu haben.

Die Frage, warum das Bugvisier brach und die „Estonia“ sank, ist auch nach 25 Jahren noch immer nicht beantwortet. Foto: epa Scanpix Samuelson

Das estnische Fährschiff „Estonia“ war am 28. September 1994 auf dem Weg von Tallinn nach Stockholm vor der finnischen Insel Utö gesunken. In der Nacht war das Bugvisier weggebrochen, 852 Menschen fanden den Tod, 137 überlebten. Die meisten Opfer waren Schweden. Der „Estonia“-Untergang gilt als größte Schiffskatastrophe seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Was die Umstände angeht, herrscht bis heute keine Klarheit. „Viele Fragen, keine Antworten“, beschreibt Uli Baumhör die Situation mit eigenen Worten. Nicht nur er findet, dass die bislang freigegebenen und veröffentlichten Untersuchungsberichte gravierende Mängel aufweisen.

Weil Schweden Unterlagen weiter unter Verschluss hält, kursieren Gerüchte. Wurde die Bugklappe gesprengt? War die russische Mafia beteiligt? Wurden auf dem Schiff Waffen geschmuggelt? Ist die „Estonia“ nach einer Kollision mit einem U-Boot gesunken? Für Aufklärung wollte die norwegische Filmfirma „Monster“ mit einer sechsteiligen Dokumentation fürs Fernsehen sorgen. Sie beauftragte Uli Baumhör damit, an der Unglücksstelle Aufnahmen zu machen. Die „Estonia“ ist offiziell ein Seegrab, Tauchen ist dort verboten, Schiffe haben sich außerhalb einer Bannmeile zu bewegen. Im Gegensatz zu Schweden, Finnland und den übrigen Anrainern hat Deutschland das „Gesetz über den Schutz des Grabfriedens am Passagierschiff Estonia“ aber nicht unterzeichnet, um sich die Möglichkeit weiterer Untersuchungen nicht zu verbauen. Der Grund: Die „Estonia“ war von der Meyer-Werft in Papenburg gebaut worden.

Uli Baumöhr

Und so brach Uli Baumhör am 19. September 2019 mit dem Tauch- und Expeditionsschiff „MS Fritz Reuter“, das der Paderborner Betreibergesellschaft R & B Shipping gehört, einem ferngesteuerten Unterwasserfahrzeug und seiner Crew mit drei Polen, zwei Schweden, zwei Norwegern und vier Deutschen von Rostock aus zur Unglücksstelle auf. „Das Fährschiff liegt 80 Meter tief und ist in einem sehr guten Zustand“, erzählt Uli Baumhör. Teilweise seien noch Bettlaken und Handtücher zu sehen. „Wir haben einen Riss entdeckt, der vorher so nicht dokumentiert war. Der vier Meter mal 1,20 Meter große Riss ist im Unterwasserschiff und geht ein Stück über die Wasserlinie hinaus“, berichtet der Wracktaucher. Angesichts dessen verhärte sich der Verdacht, „dass es seinerzeit zu einer Kollision mit was auch immer gekommen ist“. Verdutzt stellte Baumhör fest, dass in die Sektion des Schiffes, in dem sich der Riss befindet, Sand, Kies und schwere Steine geschüttet worden sind, um offenbar diesen Teil unzugänglich zu machen.

Baumhör zieht ein positives Fazit seiner Expedition: „Sie war ein voller Erfolg, denn sie brachte nicht nur neue und aktuelle Unterwasserbilder. Der Riss könnte das Puzzleteil sein, das den Untergang mit erklärt.“ Unbeachtet blieb der 57-jährige Uli Baumhör bei seiner zehntägigen Reise nicht. Im schwedischen Hoheitsgebiet folgte ihm ein Flugzeug, anschließend ein Schiff der finnischen Küstenwache. Dessen Mannschaft habe ihm von Untersuchungen an der Unglücksstelle abgeraten, erinnert sich der Paderborner, der bei der Rückfahrt schwedische Gewässer mied und stattdessen über den Finnischen Meerbusen, Estland, Lettland, Litauen und Polen kreuzte und in Rostock wieder festmachte.

Dort habe die Bundespolizei als Folge eines schwedischen Amtshilfeersuchens das Schiff nach möglicherweise von der „Estonia“ entwendeten Gegenständen durchsucht. In den Medien schlug die Expedition hohe Wellen. „Deutsches Schiff stört Totenruhe der Estonia“ lautete der Tenor, und Uli Baumhör gibt zu: „Dass es ein weltweites Interesse geben würde, hätte ich nicht gedacht.“

Für zwei Schweden aus seiner Mannschaft endete das Ganze vor Gericht und zum Glück jetzt mit einem Freispruch. Als Teil der Filmfirma hatten sie das deutsche Schiff für Dreharbeiten gechartert. An Bord eines deutschen Schiffes in internationalen Gewässern könnten die Schweden nicht belangt werden, urteilte das Gericht.

Uli Baumhör hatte ein mulmiges Gefühl auf der Reise zur „Estonia“ und die Sorge, womöglich im Gefängnis zu landen. Dennoch würde er für weitere Untersuchungen erneut dorthin fahren, für touristische Zwecke allerdings nicht: „Sensationslust – die würde ich nicht unterstützen.“

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