Gemeinsam (auf)wachsen
Zurück in die Jugendhilfe: Einstige Bewohnerin wird Fachkraft
Paderborn/Bad Wünnenberg-Haaren
Es ist eine Geschichte über eine Erzieherin, die selbst in einer Wohngruppe aufgewachsen ist und nun traumatisierten Kindern und Jugendlichen hilft. Eine Geschichte, die Mut macht und erzählt, wie sie das geschafft hat und was ihr rückblickend geholfen hat.
Wenn Celine (Name von der Redaktion geändert) die Kindervilla betritt, ist das für sie ein Gefühl von Zuhause. Die rote Telefonzelle im Flur steht dort auch heute noch. Hier hat sie elf Jahre, fast die Hälfte ihres Lebens, verbracht. Heute ist die 24-Jährige staatlich anerkannte Erzieherin und arbeitet in einer Wohngruppe in Haaren (eine Einrichtung der Kinder- und Jugendhilfe des St. Johannisstifts) mit zum Teil stark traumatisierten Kindern und Jugendlichen zusammen.
Auf den ersten Blick unterscheidet sich ihr fachlicher Umgang mit den Kindern und Jugendlichen nicht von dem ihrer Kollegen. Sie hat eine Ausbildung absolviert, Berufserfahrung und liest in der Freizeit hin und wieder Fachbücher, um sich weiterzubilden. Und doch gelingt es Celine, sich auf die Kinder einzulassen, ihre Gefühle und Einstellungen zu verstehen und sich hineinzufühlen – vielleicht etwas mehr als andere Mitarbeitende das könnten. „Manchmal erinnere ich mich daran, was mich als Kind wütend gemacht hat und was mir geholfen hat“, sagt sie selbst.
Kein leichtes Ankommen und Einleben
Celine hatte nicht das, was man von außen als unbeschwerte Kindheit beschreiben kann. Mit sieben Jahren wurde sie in Obhut genommen, weil ihre alleinerziehende Mutter sich nicht um das Kind kümmern konnte. Eine Kindeswohlgefährdung lag vor und eine Zurückführung in die Herkunftsfamilie wurde ausgeschlossen. Danach kam Celine in eine Bereitschaftspflege. So wechselte sie nach weniger als einem Jahr in eine andere Familie. Das Ankommen und Einleben war für Celine nicht leicht. Sie erinnert sich, dass sie stark spürte, sie gehöre nicht zu dieser Familie. Mit neun Jahren durfte Celine dann entscheiden, ob sie in eine andere Pflegefamilie ziehen möchte oder in die Kindervilla.
Die Kindervilla in Scherfede ist ein stationäres Wohnangebot der Kinder- und Jugenhilfe des St. Johannisstift. Unter einem Dach leben dort betreute Kinder und Jugendliche in drei Wohngruppen zusammen. Die Kindervilla bietet Kindern und Jugendlichen von sechs bis 18 Jahren einen gesicherten Lebensort auf Zeit an. Mit neun Jahren zog Celine im Jahr 2007 ein. Es war nicht immer leicht, aber aus der heutigen Perspektive für sie die richtige Entscheidung. Denn mit dem Einzug stand fest: Hier darf Celine so lange bleiben, wie sie möchte. Es wird keinen Wechsel mehr geben. Diese Sicherheit hat ihr viel Halt gegeben: „Ich habe gemerkt, dass ich willkommen bin, es war immer jemand da und dieser jemand ist geblieben und vor allem durfte ich bleiben“, sagt die 24-Jährige.
Wenn Sie heute zu Besuch in die Kindervilla geht, trifft sie noch auf viele bekannte Gesichter. Die meisten Pädagogen kennen Celine noch als Bewohnerin. Mittlerweile steht sie seit mehreren Jahren auf eigenen Beinen, hat sich eine Wohnung gesucht und diese nach und nach mit dem selbstverdienten Geld eingerichtet. Alles Schritt für Schritt.
In der Gegenwart bleiben
Den Kontakt zu ihrer Mutter konnte sie nicht wieder aufbauen, da sie vor ein paar Jahren gestorben ist. Doch auf dem rechten Arm hat sie sich u.a. das Geburtsdatum der Mutter als Erinnerung tätowieren lassen. Traurig ist sie, dass manches ungeklärt bleibt, doch Vorwürfe will sie ihrer Mutter nicht machen. „Natürlich nimmt man etwas mit aus der Vergangenheit, das ist ja bei jedem so. Aber aus heutiger Sicht ist das eben meine Geschichte. Ich kann daran nichts mehr ändern und das ist auch in Ordnung. Und das Wichtigste ist doch, ich kann die Gegenwart ändern“ sagt Celine. Heute kann sie stolz auf sich und ihre Zielstrebigkeit sein. Auch wenn sie nicht unbedingt Spaß in der Schule hatte oder gute Noten geschrieben hat, hingegangen ist sie immer und sie hat es durchgezogen: erst den Realschulabschluss, dann das Fachabitur, um das Ziel, staatlich anerkannte Erzieherin, zu verfolgen.
Heute ist sie Erzieherin und blickt auf mehrere Jahre Berufserfahrung zurück, unter anderem auch in einer Einrichtung für jugendliche und junge erwachsene Straftäter. Auf Dauer möchte sie noch eine Weiterbildung zum Anti-Aggressions- und Coolnesstrainer absolvieren, um breiter aufgestellt zu sein. Der Job ist fordernd, aber er gibt ihr auch viel zurück. Es sind die Menschen, ihre Geschichten und die vielfältigen Herausforderungen sowie eine besondere Art des Zusammenhalts: „Manchmal sitzen wir einfach still mit auf dem Boden und halten die Hand eines weinenden, schluchzenden Teenagers und manchmal spielen wir lachend Karten. Wir sind da für unsere Kids und geben ihnen Halt“, sagt Celine.
Vom wütenden Kind und Teenager zur selbständigen Frau
Was hat ihr geholfen, vom einsamen, wütenden Kind und Teenager zur selbständigen Frau zu werden? „Vor allem die Sicherheit, die ich in der Kindervilla gespürt habe. Zum anderen habe ich erkannt, nur ich selbst kann etwas an der Situation ändern. Erzieher und Bezugspersonen sind für mich da und unterstützen, aber mehr können sie nicht tun. Das sehe ich jetzt auch in meinem Arbeitsalltag. Und natürlich ist eine Struktur hilfreich und das Setzen von eigenen Zielen.“
Für die Kinder und Jugendlichen in der Wohngruppe in Haaren ist Celine eine Bezugsperson, die gewisse Situationen anders verstehen kann. „Wenn es zum Beispiel um einen Umzug in eine eigene Wohnung geht, dann ist das etwas Besonderes, ein Neuanfang. Gleichzeitig stellt man dann oft fest: Ich kann nicht Mama oder Papa anrufen und fragen, ob sie mir noch etwas Geld leihen können, um die Wohnung einzurichten oder beim Umzug zu helfen oder oder oder... Aber auch da ist der Schlüssel: Alles Schritt für Schritt. Und genau das versuche ich dann ‚meinen‘ Kids zu erklären. Und ich glaube schon, dass sie merken, da sitzt ihnen jemand gegenüber, der das Gefühl kennt und manchmal auch die Situation selbst erlebt hat“, sagt die 24-Jährige. Wenn sie von ihrem Job erzählt, leuchten ihre Augen.
In der Kindervilla möchte sie aber nicht arbeiten, denn das wäre komisch „zu Hause arbeitet man nicht. Außerdem behalte ich diese Villa lieber so in Erinnerung ...“, sagt sie. Sie blickt auf ihre linke Hand. Dort ist ein weiteres kleines Tattoo zu sehen. Es ist ein Symbol, das Celine an die prägende Zeit in der Kindervilla erinnert, ihrem gewählten Zuhause.
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