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Jens Ruzsitska zeigte Andreas V. schon 2016 an

»Das Jugendamt, die Polizei – alle wussten Bescheid«

Lügde (WB). Nein, sagt Jens Ruzsitska (56), freuen könne er sich über die Festnahme von Andreas V. (56) nicht. »Ich verspüre eher Wut und Ohnmacht. Denn wenn die Behörden mich 2016 ernstgenommen hätten, wären viele Kinder nicht missbraucht worden.«

Christian Althoff

Jens Ruzsitska (56) aus Bad Pyrmont informierte die Behörden schon 2016 über den mutmaßlichen Sexualstraftäter Andreas V., fand aber kein Gehör. Foto: Christian Althoff

21 Mädchen und zwei Jungen sollen seit 2008 auf dem Campingplatz »Eichwald« in Lügde-Elbrinxen von zwei Campern missbraucht worden sein. Den Männern werden unterschiedlichste Taten bis hin zu Vergewaltigungen vorgeworfen – auch mit Sexspielzeugen. Die Pädokriminellen sollen Videos der Verbrechen an einen dritten Mann in Stade übermittelt haben. Alle drei sitzen jetzt in Untersuchungshaft.

Vor einigen Tagen klingelte ein Kriminalbeamter bei Jens Ruzsitska, einem alleinerziehenden Vater, der mit seinen acht und elf Jahre alten Töchtern in Bad Pyrmont lebt. »Er sagte: Herr Ruzsitska, es geht um ihre Anzeige von 2016. Sie hatten Recht, es war Missbrauch.« Da habe er sich erst einmal fangen müssen, sagt der 56-Jährige. »Ich war fertig.«

»Ich ahnte, dass der Mann pädophil ist«

Im August 2016 habe er mit seinen damals sechs und acht Jahre alten Töchtern das Grillfest eines Kleingartenvereins in Bad Pyrmont besucht. »Dort war auch ein Mann mit einem kleinen Mädchen. Er stellte sich als Addi vor und sagte, er lebe auf dem Campingplatz in Elbrinxen.« Der Mann habe sich auf dem Fest Kindern aufgedrängt. Er habe sie hochgehoben, indem er ihnen in den Schritt gefasst habe. »Auch meine Töchter. Als ich das gesehen habe, bin ich dazwischengegangen.« Später habe der Mann eine seiner Töchter auf der Schulter getragen und zu ihr gesagt, sie solle ihren Rock zur Seite schieben. »Ich habe das mitbekommen und ihn gefragt, was das soll.« Die Antwort sei so obszön gewesen, dass er dem Mann einen Faustschlag verpasst habe.

»Ich habe mir die Mädchen geschnappt, und wir sind gegangen. Ich ahnte, dass der Mann pädophil ist, und habe noch am selben Abend den Kinderschutzbund in Bad Pyrmont informiert. Außerdem habe ich das Jugendamt des Kreises Hameln-Pyrmont angerufen und die Polizei in Blomberg.« Wurde er von der Kripo zur Vernehmung vorgeladen? »Nein, es hat sich keiner interessiert. Wochen später rief mich ein Polizist an und sagte, an der Sache sei nichts dran. Und das Jugendamt Hameln-Pyrmont riet mir, mit solchen Vorwürfen künftig vorsichtig zu sein. Dabei wusste ich ja, was ich gehört und gesehen hatte. Deshalb war es für mich unfassbar, dass nichts unternommen wurde.«

»Er hat den Kindern mit einem Killer gedroht«

Inzwischen, sagt Jens Ruzsitska, habe er Kontakt zu einer Mutter, deren drei Töchter von Andreas V. auf dem Campingpatz missbraucht worden sein sollen. »Er hat den Kindern mit einem Killer gedroht, sollten sie reden.« Es mache ihn fertig, dass 2016 niemand auf ihn gehört habe, weil vielleicht auch diesen drei Mädchen viel erspart geblieben wäre, sagt Ruzsitska.

Die Beteiligten bestätigen die Schilderung des 56-jährigen Bad Pyrmonters, der als Fahrer arbeitet. Der Kinderschutzbund wollte sich gestern öffentlich nicht äußern, doch machte eine Mitarbeiterin klar, dass man das Vorgehen von Polizei und Jugendamt schon damals nicht verstanden habe.

Gestern gab die Staatsanwaltschaft Detmold bekannt: Die lippische Polizei hat damals überhaupt nicht ermittelt, sondern lediglich das Jugendamt des Kreises Lippe informiert. Dessen Leiter Karl-Eitel John sagte gestern: »Dabei ist uns gegenüber aber nicht von einem Missbrauchsvorwurf die Rede gewesen. Uns wurde gesagt, es gehe um die Wohnsituation auf dem Campingplatz.«

»Das war keine adäquate Unterbringung für ein Kind«

Das Jugendamt Lippe sei dem Hinweis nachgegangen und habe die Unterkunft des Mädchens auf dem Campingplatz kontrolliert. »Das war keine adäquate Unterbringung für ein Kind«, sagte John. Da aber wegen des Wohnortes der Mutter das Jugendamt Hameln-Pyrmont für das Mädchen zuständig gewesen sei, habe man dort auf eine Änderung der Wohnsituation gedrängt. Die wurde nur zögerlich umgesetzt: Andreas V. fand zwar 2018 eine Wohnung, lebte aber bis zu seiner Festnahme weiter auf dem Campingplatz.

Es war aber nicht nur Jens Ruzsitska, der einen Verdacht gegen Andreas V. äußerte: Drei Monate nach seinem Anruf bei der Polizei meldete sich eine Mitarbeiterin des Jobcenters Blomberg sowohl bei der Polizei als auch beim Jugendamt Lippe. Oberstaatsanwalt Ralf Vetter: »Sie berichtete von Äußerungen des Pflegevaters ihr gegenüber, die auf einen sexuellen Missbrauch des Kindes hindeuten konnten.« Die Mitteilung der Frau seien aber von der Polizei lediglich an die beiden Jugendämter weitergegeben worden. »Nachdem die Jugendämter der Polizei mitgeteilt hatten, dass die Überprüfung des Pflegevaters keine Hinweise auf sexuellen Missbrauch erbracht hätten, schloss die Polizei den Vorgang ohne weitere Ermittlungen ab.« Auch die Staatsanwaltschaft sei nicht informiert worden.

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