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Europaparlamentarier Markus Pieper (CDU) im Interview über die Taxonomie-Pläne der EU und die Möglichkeiten moderner Atomtechnik

Woher soll die Energie kommen?

Brüssel/Lotte.

Die EU-Kommission will Energieerzeugung aus Atom und Gas in die sogenannte Taxonomie aufnehmen – eine Art Gütesiegel für Klima- und Umweltfreundlichkeit, an dem sich potenzielle Finanzinvestoren zukünftig orientieren können.

Von Andreas Schnadwinkel

Kohle, Gas oder Wind? Kohle, Gas und Wind! Dr. Markus Pieper (58) ist im Europaparlament auch für Energie zuständig. Foto: Matthias Oesterle/dpa Schnadwinkel

Dr. Markus Pieper (CDU) aus Lotte im Kreis Steinfurt ist Europaparlamentarier für das Münsterland und vertritt auch Ostwestfalen-Lippe bei der Europäischen Union (EU). Als Mitglied im Ausschuss für Industrie, Forschung und Energie ist er politischer Experte für das Thema.

Am 10. April beginnen in Frankreich die Präsidentschaftswahlen. Ist die Ankündigung der EU-Kommission, Atomkraft als nachhaltig zu labeln, auch ein Wahlkampfgeschenk an den amtierenden Präsidenten Emmanuel Macron, dessen Land zu 70 Prozent Strom aus Atomkraft verbraucht?

Markus Pieper: Kernkraft als CO2-neutrale Zukunftsoption spaltet derzeit nur Teile des linken Lagers in Frankreich. Eine klare politische Mehrheit ist für die Atomkraft. In Umfragen sprechen sich mehr als 60 Prozent der Franzosen dafür aus. Insofern ist die Einstufung der Kernkraft als nachhaltig ein wichtiges indus­triepolitisches Signal. Natürlich hilft das einer amtierenden Regierung. Es geht hier ja auch nicht mehr um die alten Meiler, sondern um die Planungen für kleinere flexible Kraftwerke, die bei weitem nicht mehr das Risikopotenzial haben.

Kommt Widerstand nur aus Deutschland, Österreich und Luxemburg, weil dort Grüne mitregieren?

Pieper: Luxemburgs Regierung spielt bei energiepolitischen Entscheidungen in Europa eine Nebenrolle. Österreichs Nein zu Atom hat Tradition, und in Deutschland herrscht seit Fukushima ja relativer politischer Konsens, was den Ausstieg aus der konventionellen Atomtechnologie betrifft. Mit den Grünen hat das mittelbar nichts zu tun. Im kleinen Finnland, das gerade seinen sechsten Reaktor plant, akzeptieren die bis jetzt mitregierenden Grünen Kernkraft sogar als Übergangstechnologie.

Halten Sie den Energiekurs der EU für richtig?

Pieper: Die EU-Einstufung als nachhaltig mit der sogenannten Taxonomie erleichtert die Finanzierung neuer Kraftwerks-Generationen – für Kernkraft mit Risikominimierung, für wasserstoffgeeignete Erdgaskraftwerke und natürlich für Anlagen der Erneuerbaren Energien. Ja, ich halte diese Einstufungen für richtig, weil jedes Land seine besondere Energie-Historie hat und über die Energiewende selbst entscheiden können muss. Unser Maßstab sind dabei die Pariser Klimavorgaben – die müssen wir einhalten und dürfen nicht durch häufig besserwisserische Technologie-Grabenkämpfe wertvolle Zeit verlieren und steigenden Energiepreisen einfach nur zusehen.

CDU-Europaabgeordneter Markus Pieper. Foto: Andreas Schnadwinkel

Auch Investitionen in neue Gaskraftwerke sollen als nachhaltig eingestuft werden, weil sie während des Übergangs zu mehr erneuerbarer Energie die Versorgung sichern. Hat die Kommission da Recht?

Pieper: Ja, die EU-Vorgaben machen die deutsche Energiewende erst möglich, weil für eine Übergangszeit neue Gaskraftwerke finanzierbar werden, die dreckige Kohle und unerwünschte Kernkraft ersetzen und später mit Wasserstoff laufen. Das ist ein Beitrag zur Energiesicherheit. Das, was die EU-Kommission an CO2-Grenzwerten für diese neuen Gaskraftwerke vorsieht, ist aber mit heutiger Technik nicht zu erreichen und wird der Energiewirtschaft noch einiges abverlangen, zumal diese Anlagen später auch mit Wasserstoff laufen sollen.

Das bedeutet aber auch, dass Deutschland auf mehr russisches Gas angewiesen ist. Ist mit dem Ukraine-Konflikt und steigender Erpressbarkeit die Pipeline Nord Stream 2 überhaupt noch realistisch?

Pieper: Vor dem Hintergrund des Ukraine-Konflikts verstehe ich die Sorgen insbesondere Polens und der baltischen Staaten. Fakt ist aber auch, dass Russland langfristige Energieverträge einhält und über die Jamal-Pipeline und zusätzlich Turk-Stream weite Teile Ost-, Mittel- und Südosteuropas beliefert – nicht nur Deutschland. Die Abhängigkeit ist also eine gegenseitige. Nord Stream allein entspricht dabei übrigens gerade einmal drei Prozent des europäischen Energieverbrauchs. Das sollte man nicht als Schicksalsprojekt überhöhen. Und scheitert die fertig gebaute Pipeline, ist Schadensersatz fällig. Mindestens sechs Milliarden Euro, die am Ende der deutsche Steuerzahler und letztlich auch die Energiekunden zu tragen haben. Können wir uns das leisten?

Gibt es auch in Deutschland eine Zukunft für Atomkraft?

Pieper: Wenn, was sich abzeichnet, flexible und kleine Kernkraftwerke viel sicherer sind und die Halbwertzeit des Abfalls nur noch ein Bruchteil der heutigen ist, werden diese europäischen Atom-Taxonomie-Vorgaben auch in Deutschland wieder ein Thema sein. Fast alles, was gestern und heute zu Recht gegen Atomkraft spricht, wird morgen kein Thema mehr sein. Das muss auch die deutsche Politik zur Kenntnis nehmen und neu bewerten.

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