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Kommentar zum endgültigen Aus der Atomkraft in Deutschland

Die Ideologie siegt

Das Aus der Atomkraft fußt in Deutschland im Grundsatz auf ei­nem breiten gesellschaftlichen Konsens. Dennoch kommt die Abschaltung der drei letzten verbliebenen Kernkraftwerke zum 15. April zu früh. Prinzipienreiterei siegt über Pragmatismus.

Wird auch abgeschaltet: das Kernkraftwerk Emsland in Niedersachsen. Foto: Sina Schuldt/dpa

Die politische Irrfahrt war lang: erst  2002  unter Kanzler Gerhard Schröder und Rot-Grün der geplante Ausstieg aus der Atomkraft, dann 2010 unter Angela Merkel und Schwarz-Gelb der Ausstieg aus dem Ausstieg und schließlich nur wenig später im Jahr 2011 – nach dem durch einen verheerenden Tsunami ausgelösten Reaktorunfall im japanischen Fukushima – ihr Ausstieg aus dem Ausstieg aus dem Ausstieg. Es war in den vergangenen 20 Jahren nicht immer leicht, bei all diesen Volten und Wendungen die Übersicht zu behalten.

Heute lässt sich sagen: Der Abschied von der Kernkraft bleibt richtig, aber er kommt zum falschen Zeitpunkt. Was sich wie ein Widerspruch anhört, wird durch Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine und die damit auch hierzulande verbundene Energiekrise erklärlich.

Nur Streckbetrieb statt Laufzeitverlängerung

Gewiss, alle Vorbehalte gegen die Kernkraft gelten auch nach dem 24. Februar 2022 unvermindert weiter. Zu groß die Risiken, noch immer ungelöst die Endlagerfrage. Praktische Pro­bleme kamen hinzu. Kernkraftwerke lassen sich nicht beliebig an- und abschalten, es fehlte an frischen Brennstäben und neue Sicherheitsüberprüfungen wären notwendig geworden. Zudem hatte sich das extrem spezialisierte Fachpersonal mit Blick auf das ursprünglich bereits für Ende 2022 geplante Aus vielfach längst umorientiert.

Am 15. April 2023 soll Schluss sein, dann gehen auch die letzten drei Kernkraftwerke Emsland, Neckarwestheim 2 und Isar 2 vom Netz. Die jahrzehntelange Geschichte der Atomenergie in Deutschland ist dann zu Ende – der politische Streit um diese Entscheidung nicht unbedingt. Foto: dpa

Trotzdem bleibt ein sehr fader Beigeschmack. Denn all das hätte sich umorganisieren lassen, wenn die Ampel-Koalition vor einem Jahr konsequent der Realpolitik gegenüber grüner Ideologie den Vorzug gegeben hätte. Und zwar ohne dass dadurch die Risiken gravierend gewachsen wären. Die Bundesregierung jedoch konnte sich jedoch nur zu einem dreimonatigen Streckbetrieb durchringen, und dafür bedurfte es sogar noch eines Machtwörtchens von Olaf Scholz.

Nettozubau der Windkraft noch zu gering

Apropos: Mit Blick auf sein neues Lieblingswort „Deutschlandtempo“ hat der SPD-Kanzler ja versprochen, dass demnächst jeden Tag vier bis fünf Windräder in Betrieb gehen sollen – zuletzt lag der Nettozubau bei etwa 0,9. Nun rechnet das Online-Portal „cleanthinking.de“ vor, dass für den Ersatz jedes der drei Kernkraftwerke Neckarwestheim 2, Isar 2 und Emsland circa 835 Windräder an Land nötig wären, zusammen also 2505 Windräder. Selbst bei optimistischer Betrachtung dürfte das mindestens zwei, drei Jahre dauern.

Was also hätte näher gelegen, als die Brücke in die atomstromfreie Zeit um genau diesen Zeitraum zu verlängern? Denn immerhin haben die drei Meiler zuletzt sechs Prozent des deutschen Strombedarfs gedeckt. Und zwar verlässlich auch dann, wenn keine Sonne scheint und kein Lüftchen sich regt. Und dieser Strombedarf wird ja gerade wegen der Energiewende weiter steigen – Stichwort Wärmepumpen.

Grüne Prinzipienreiterei statt Pragmatismus

Schade, dass die Grünen hier stur geblieben sind. Denn dass es anders geht, hat die Ökopartei, die sich zugleich als Friedenspartei sieht, ja bei ihrer Haltung zum Ukraine-Krieg eindrucksvoll bewiesen. Nun aber siegt Prinzipienreiterei über gesunden Pragmatismus. Und deutsche Gründlichkeit führt zu dem Treppenwitz, dass schmutzige Braunkohlekraftwerke die CO2-Emissionen in die Höhe treiben, damit dem grünen Gründungsmythos Genüge getan wird – und es heißt: „Atomkraft, nein danke!“ Kein Wunder, dass man sich da nicht nur in den Ländern verwundert die Augen reibt, die weiter voll auf Atomkraft setzen.

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