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Kommentar zur Senkung der Mehrwertsteuer

Doch nicht ganz zielgenau

Das Konjunkturprogramm müsse nach der ökonomischen Lehre vier Bedingungen erfüllen, sagt der Finanzminister. Es muss laut Olaf Scholz schnell, befristet, zielgerichtet und auf Zukunftsfragen ausgerichtet sein.

Birgit Marschall

Die Senkung der Mehrwertsteuer ist umstritten. Beschlossen wurde sie trotzdem. Foto: dpa

Alle diese Bedingungen erfülle das Paket, das im Kabinett an diesem Freitag in Windeseile beschlossen wurde, meint der Minister. Tatsächlich aber kann die Regierung nur die ersten beiden Bedingungen fast vollständig einlösen. Bei der Erfüllung der anderen beiden Bedingungen – bei der Zielgenauigkeit und der Ausrichtung auf die Zukunft – sind Zweifel zumindest angezeigt, die das insgesamt positive Urteil über dieses Konjunkturpaket ein wenig trüben.

So stellt sich die Frage, ob ein einmaliger Bonus von 300 Euro für jedes Kind zielgerichtet genug ist, um die Konsumnachfrage kurzfristig anzukurbeln – oder ob dieses Geld nicht einfach auf dem Familienkonto liegen bleibt, solange sich nicht klar abzeichnet, dass Jobs und Familieneinkommen dauerhaft gesichert sind.

Dass Olaf Scholz diesen Zuschuss auch damit begründet, dass den Familien in der Corona-Krise mit der Schließung von Kitas und Schulen viel zugemutet wurde, ist verräterisch: Offenbar spielten bei der Entscheidung für den Bonus nicht nur das Nachfrageargument, sondern auch das Gerechtigkeitsargument und die Familienpolitik eine Rolle.

Hätte die Regierung nur an die Konjunktur gedacht, wäre das Geld für den Familienbonus wohl in mehr Hilfen für Solo-Selbstständige oder gezieltere Investitionen in die digitale Bildung besser angelegt gewesen.

Das Kernstück des Pakets, die befristete Mehrwertsteuersenkung, ist in seiner Wirkung begrenzt, wenn die Verbraucher überwiegend nicht erwarten, dass sie dadurch Preisnachlässe erfahren. In einer aktuellen Umfrage zeigen sich 85 Prozent der Verbraucher pessimistisch: Sie gehen nicht davon aus, dass der Handel oder die Dienstleister die Steuersenkung wirklich an die Kunden weiterreichen. Die Regierung argumentiert dagegen schlüssig, gerade in Bereichen, in denen die Nachfrage eingebrochen sei, müssten die Anbieter ein noch größeres Eigeninteresse an Preisreduktionen haben.

Ob das 20 Milliarden Euro teure Experiment jedoch gelingt, ist fraglich. Wirkungsvoller wäre wohl das Vorziehen der Abschaffung des Solidaritätszuschlags auf den 1. Juli gewesen. Zwar wäre diese Maßnahme nicht befristet gewesen, weil sie über das Jahresende hinaus gegolten hätte. Doch hätten Verbraucher und viele Unternehmer den Vorteil der Soli-Abschaffung sofort auf ihren Kontoauszügen gesehen.

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