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„Wege durch das Land“: Ulrich Noethen und Helene Grass nähern sich der Pandemie

Das Virus auf allen Wegen

Möhnesee (WB). Natürlich wird es dem regionalen Kulturfestival „Wege durch das Land“ nicht gerecht, wenn man eine der Darbietungen so heraushebt. Doch angesichts der Lage, dass ein Virus seit einem halben Jahr den Lauf den Lebens bestimmt, hatte die Veranstaltung „Blinde, die sehend nicht sehen“ am Samstag in Möhnesee eine überaus starke Wirkung – wegen ihres direkten Bezugs zur Pandemie und wegen der herausragenden Performance.

Andreas Schnadwinkel

Szenische Lesung mit Musik: Ulrich Noethen und Helene Grass (rechts) haben sich mit Begleitung von Birgit Erz (links) und Ilona Kindt José Saramagos Nobelpreis-Roman „Die Stadt der Blinden“ genähert. Foto: Andreas Schnadwinkel

„Auswärtsspiel“ nennt Albrecht Simons von Bockum Dolffs den Ausflug in seine Heimat, den Kreis Soest, und spricht von einer „Annäherung“ aus Ostwestfalen-Lippe. „Wie wir wissen, trennt uns ein kultureller Graben“, merkt er an, ironisch gemeint oder auch nicht. Der künstlerische Leiter der „Wege“ hat den Gutshof Schulte-Drüggelte in Möhnesee als Ort ausgesucht. In der Scheune zieht es, die Tore müssen wegen der Corona-Schutzmaßnahmen offen bleiben. Die meisten Besucher haben sich vorbereitet. Über den Stuhllehnen hängen Wolldecken, und auf den Sitzflächen liegen vereinzelt Wärmflaschen, die in der Pause mit kochendem Wasser nachgefüllt werden.

„Die Stadt der Blinden“ liefert an diesem Tag die Vorlage. 1995 schrieb José Saramago seinen Roman, für den er 1998 den Literaturnobelpreis erhielt. In einer nicht näher benannten Metropole (in der Verfilmung des brasilianischen Regisseurs Fernando Meirelles von 2008 könnte man von São Paulo oder Los Angeles ausgehen) werden Menschen von Blindheit befallen, Staat und Gesellschaft reagieren ohnmächtig. Saramago beschreibt die Seuche in einem sachlich-neutralen Stil.

Albrecht Simons von Bockum Dolffs und Helene Grass. Foto: Andreas Schnadwinkel

Dabei wechselt er die Erzählperspektive vom berichtenden Autor zu erblindeten Personen bis zur letzten sehenden Frau. „Das Verwirrspiel der Perspektiven zeugt von der Unsicherheit der Menschen“, sagt Albrecht Simons von Bockum Dolffs und erkennt heute in dem Roman keine Dystopie mehr: „Mit der Erfahrung, die wir seit sechs Monaten machen, ist das keine fantastische Literatur mehr. Allerdings ist die ‚Weiße Seuche‘ in dem Buch weitaus dramatischer als das, was wir gerade erleben.“

Dramatisch klingt Ulrich Noe­then, wenn er einen Mann spricht, dem das Sehen vergangen ist. „Ich bin blind“, ruft er mit zitternder Stimme. Der Charakterschauspieler liest seine Passagen aus „Die Stadt der Blinden” nicht ab, er rezitiert und spricht nicht bloß – er spielt die Rolle und lässt sie lebendig werden. Diese szenische Lesung mit Musik wirkt auf das Publikum wie die Live-Aufnahme eines Hörbuchs. Besonders dann, wenn Helene Grass als noch sehende Frau des Blinden in den Dialog einsteigt.

Wenn Ulrich Noethen die 15 Anordnungen einer überforderten Regierung für die Menschen in Quarantäne vorliest und die Härte dieser Gebote von Ilona Kindt (Cello) und Birgit Erz (Violine) musikalisch verstärkt wird, dann lässt sich das nicht missverstehen. Nämlich dahingehend, dass die Corona-Schutzmaßnamen in den 16 Bundesländern notwendig und im Vergleich zu Saramagos aus heutiger Sicht gar nicht mehr so fiktivem Szenario durchaus abgewogen sind.

„Die Stadt der Blinden“ passt vollkommen zum Motto der 21. Saison von „Wege durch das Land“: „Der Fehler...eine Liebeser­klärung“. Im Umgang mit der Corona-Krise und ihren Folgen machen Menschen Fehler: Virologen, Politiker, Protestler, Passanten. Und wenn die Zeiten wieder bessere sind, wird man sich ge­genseitig viel verzeihen müssen.

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