Sind Facebook-Freunde echte Freunde? Warum wir einen neuen Freundschaftsbegriff brauchen
»Wir wollen etwas Besonderes sein«
München (WB). Freundschaften sind heute wichtiger denn je. In Umfragen rangieren sie ganz oben unter den Zutaten für ein gutes Leben. Der Publizist Dr. Björn Vedder zeigt in seinem Buch »Neue Freunde – Freundschaft in Zeiten von Facebook«, was Freundschaft bedeutet, wie sie gelingt und warum Facebook-Freunde echte Freunde sind. Mit ihm sprach Ludmilla Ostermann.
Wie viele Facebook-Freunde haben Sie, Herr Vedder?
Björn Vedder: So 300.
Und das sind alle echte Freunde?
Vedder: Ich würde sagen, schon.
Warum glauben Sie das?
Vedder: Weil ich glaube, dass in den Freundschaften auf Facebook exemplarisch zu beobachten ist, was für Freundschaften überhaupt gilt: Wir können von Facebook lernen, dass Freundschaften Beziehungen sind, die auf gegenseitiger Anerkennung beruhen.
Lesung in Paderborn
Am Freitag, 21. Juli, um 19 Uhr wird Vedder im Kunstverein Paderborn, Westernstraße 7, lesen. Der Eintritt ist frei.
Ist Anerkennung das zentrale Element, wonach wir heute in Freundschaften suchen?
Vedder: Ja, ich glaube, dass Freundschaften wie Liebesbeziehungen sind, in denen sich unsere Suche nach persönlicher Anerkennung und Wertschätzung verdichtet, und dass wir in solchen Beziehungen das Gefühl haben wollen, liebenswerte Menschen zu sein. Wir wollen um unser selbst willen etwas Liebenswertes und Besonderes sein. Das ist eine Auszeichnung, die wir nur durch andere bekommen können. Deswegen sind soziale Beziehungen wie Freundschaften so wichtig.
Ist es egal, wer uns anerkennt? Ist jede Anerkennung gleich viel wert?
Vedder: Ich glaube nicht. Ich glaube, Anerkennung kann nur dann funktionieren, wenn wir den anderen, der uns anerkennen soll, umgekehrt ebenso anerkennen. Ein Beispiel aus der Literatur: Max Frisch war von Jugend auf mit Werner Coninx befreundet. Frisch kam aus kleinen Verhältnissen, sein Freund war der Erbe eines großen Verlages. Coninx hat Frisch von Anfang an materiell unterstützt und sein Studium bezahlt, sich aber auch kulturell überlegen gefühlt, und Frisch hat das natürlich gemerkt. Das hat die Freundschaft ausgehöhlt und langfristig zerstört. Anerkennung funktioniert nur auf Augenhöhe. Sie zwingt uns dazu, den anderen in gleichem Maße anzuerkennen. In diesem Sinne sind ungleiche Freundschaften nicht möglich. Andererseits zeigen sozialpsychologische Untersuchungen, dass es verschiedene Formen von Anerkennung gibt, verschiedene Intensitäten. Es geht einerseits darum, von möglichst vielen Menschen möglichst oft, aber weniger intensiv bestätigt zu werden und andererseits von weniger Menschen weniger oft, dafür aber intensiver bestätigt zu werden. Diese beiden Bedürfnisse bestehen zugleich, und Menschen verfolgen komplementäre Strategien, um sie zu befriedigen. Für die erste Strategie sind die Freundschaften auf Facebook ein gutes Beispiel.
Dr. Björn Vedder
Wofür wollen wir denn heute Anerkennung erfahren?
Vedder: Dafür, dass wir, so, wie wir sind, liebenswert und etwas Besonderes sind. Und nicht, weil ich als Mensch Tugenden repräsentiere, die letztlich von mir ablösbar sind. Wenn jemand sagt »Ich liebe dich, denn du bist so tapfer, reinlich und bescheiden« würden das heute viele Leute gar nicht mehr als befriedigend erfahren. Ich könnte ja sagen: »Du liebst nur die Tapferkeit, die Reinlichkeit und die Bescheidenheit, aber nicht mich in meiner unverwechselbaren Einzigartigkeit.« Das Problem ist aber: Sobald ich wegen meiner Unverwechselbarkeit geliebt werden will, brauche ich einen anderen Menschen, der mir das bestätigt. Ich kann mir das nicht selbst sagen. Wenn es hingegen um meine Tapferkeit geht, kann ich mir die Antwort zumindest bis zu einem gewissen Grade selbst geben.
Tapferkeit, Bescheidenheit – das haben sich Menschen also früher von Freunden erhofft?
Vedder: Die Vorstellung, dass Freunde aneinander vor allem die Tugend schätzen, weil das tugendhafte Handeln uns ermöglicht, ein gutes und glückliches Leben zu führen, geht auf die Nikomachische Ethik von Aristoteles zurück. Wir glauben auch heute noch, dass Freundschaften für ein gutes Leben entscheidend sind. Wie Umfragen zeigen, ist uns nichts anderes so wichtig. Aber unsere Vorstellungen davon, was ein gutes Leben ausmacht, haben sich geändert. Deswegen brauchen wir heute einen neuen Freundschaftsbegriff. Der fehlt bisher, und deshalb hängen wir noch an überlieferten Konzepten wie der Kameradschaft und der Freundschaft in der Not. Letztere war vielleicht mal notwendig, als es noch keinen ADAC und kein Versicherungssystem gab, taugt aber heute nicht mehr.
Ist diese Sichtweise nicht etwas nüchtern?
Vedder: Die Freundschaft in der Not basiert darauf, dass eine Hand die andere wäscht. Das ist eine Beziehung, die wunderbar funktionieren kann. Das Problem ist nur, dass wir sie nicht als reine Geschäftsbeziehung führen. Wir sagen nicht: »Ich hol dich heute Abend ab, denn wenn ich mal liegenbleibe, holst du mich ja auch ab.« Sondern: »Ich hol dich heute Abend ab. Ist doch klar, denn ich mag dich doch.« Wir sagen das, weil wir uns heute mit so einem Geschäft nicht mehr zufrieden geben, sondern in der Freundschaft außer der Hilfe auch die Bestätigung wollen, ein liebenswerter Mensch zu sein. Damit wird das Geschäft jedoch undurchsichtig. Wir wollen Leistungen und Zuneigung austauschen, schreiben uns dafür aber Wechsel nur auf unsere gegenseitige Zuneigung aus. Dadurch entsteht das Problem der Heuchelei, und wir müssen uns schlimmstenfalls fragen, ob der Scheck unseres Freundes auch gedeckt ist.
Dr. Björn Vedder
Wie funktioniert diese gegenseitige Wertschätzung denn genau?
Vedder: Es geht vor allen Dingen um die Kunst des Umgangs miteinander. Da kommen wieder Sachen wie Höflichkeit und Umgangsformen ins Spiel. Adolph Knigge sagt, Umgangsformen sind die Kunst, sich selbst Geltung zu verschaffen, indem man den anderen gelten lässt. In Freundschaften ist das besonders wichtig, weil es da nicht so sehr darum geht, wie der andere wirklich ist, sondern darum, wie er sein will. Das heißt, Freunde idealisieren sich bis zu einem gewissen Grade. Sie zeigen einander, wie sie gerne wären – und in den Augen meines Freundes bin ich immer auch ein Stückchen größer und schöner, als ich es tatsächlich bin. Was dieses Idealisieren voraussetzt, kann man gut an der Malerei beobachten, bei der ich mein Auge auch in einer gewissen Entfernung halten muss und gar nicht allzu scharf sehen wollen darf. Sonst habe ich nur Pixel und Flecken. In einem ganz ähnlichen Sinne muss ich auch meinen Freund wohlwollend anschauen. Mein Blick darf ihn nicht entlarven. Außerdem setzt diese gegenseitige Wertschätzung eine poetische und hermeneutische Kunstfertigkeit voraus. Ich muss in der Lage sein, mich dem anderen als derjenige zu zeigen, der ich gern sein möchte und verstehen, wie und wer er sein möchte. Das ist gar nicht so einfach, denn wir sagen ja nicht explizit, wer oder was wir unserer Meinung nach sind, sondern wir kommunizieren mit ganz bestimmten Zeichen, die wir uns wiederum von kulturellen Mustern abgeschaut haben. Indem wir bestimmte Musik hören und bestimmte Redeweisen verwenden, wollen wir dem anderen mitteilen, wer wir gerne sein möchten oder wie wir von ihm gesehen werden möchten. Das setzt voraus, dass ich die entsprechenden Zeichen selbst verwenden und bei meinem Freund verstehen kann. Auch das funktioniert auf einer Plattform wie Facebook wunderbar. Es setzt bei mir voraus, dass ich diese Zeichen meines Freundes verstehen können muss.
Sie sagen, die moderne Persönlichkeit hat einen narzisstischen Charakter. Gleichwohl könnten Freundschaften aus Narzissten bessere Menschen machen. Wie funktioniert das?
Vedder: Das Problem an narzisstischen Beziehungen ist, dass der andere nur ein Spiegel für mich sein kann. Er hat dann für sich selbst keine Bedeutung, sondern ist nur ein Lieferant von Bestätigung. Andersherum muss auch ich mich fragen, ob der andere tatsächlich mich liebt oder nur die Bestätigung, die ich ihm gebe. Das ist für uns beide frustrierend und enttäuschend und zeigt, wieso Narzissten in Beziehungen nicht die Wertschätzung erfahren können, die sie suchen. In Freundschaften werden sie jedoch gezwungen, eine andere Perspektive auf ihr Gegenüber einzunehmen, weil das Beziehungen sind, die eine starke wechselseitige Anerkennung erzwingen. Freundschaften verlangen von uns, den anderen als jemanden zu sehen, der nicht nur für uns etwas bedeutet, in dem Sinne, dass er uns anerkennt, sondern jemand ist, der selbst Bedeutung hat und für den es selbst Bedeutung gibt. Genau wie für uns gibt es auch für ihn Dinge, die ihm wichtig sind. Und in der Freundschaft lernen wir, das zueinander in Beziehung zu setzen. Wir fragen uns: Können wir ihm das, was wir von ihm wollen, im Hinblick darauf, was ihm wichtig ist, zumuten oder nicht? Und so machen Freundschaften aus Narzissten wenigstens halbwegs anständige Menschen.
Dr. Björn Vedder
Freundschaften funktionieren in der realen Welt natürlich besser als im Sozialen Netzwerk. Warum ist auch das physische Beisammensein so wichtig?
Vedder: Ich glaube, dass wir den anderen nur begreifen können, wenn wir ihn mit unseren Händen auch einmal angegriffen, angefasst haben. Eine rein virtuelle Intimität bleibt immer hohl, ganz egal ob die Kommunikation auch zu gemeinsamen Handlungen führt oder nicht. Ein gutes Beispiel dafür ist Freundschaft des Dichters Gottfried Benn mit dem Kaufmann Oelze. Die waren fast ein ganzes Leben miteinander befreundet, in ihren Briefen ein Herz und eine Seele und haben viel gemeinsam gemacht: Sie haben zum Beispiel Benns Buch »Weinhaus Wolf« zusammen geschrieben. Sie haben aber ihre ganze Intimität nur dem Papier überantwortet und sich selber kaum jemals gesehen. Die haben sich nie angefasst, oder in den Arm genommen. Als Benn mal eine schwere Depression hatte, ist Oelze nach Berlin gefahren, um ihn zu besuchen, hat sich aber dann nur vor Benns Haustür rumgedrückt und ist – ohne sich melden – wieder abgefahren. Benn hat das sehr verletzt. Man sieht: Bei einer Intimität, die rein virtuell bleibt, bleibt eine gewisse Oberflächlichkeit, ein Abgrund, der nur gefüllt werden kann, wenn ich mit den Vorstellungen, Gedanken und Gefühlen, die ich mit meinen Freund teile, tatsächlich auch physische Erfahrungen verbinde. Es geht gar nicht darum, körperlich eins zu werden, wie in einer erotischen Beziehung. Aber der Freund muss körperlich fassbar werden.
Mehr als zwei Milliarden Menschen nutzen Facebook. Wie funktioniert Anerkennung ohne dieses Medium?
Vedder: Das Bedürfnis nach Anerkennung ist viel älter als Facebook. Etwa so alt, wie es uns als moderne Persönlichkeiten gibt. Der Regisseur Federico Fellini hat mal berichtet, dass er in seinem italienischen Heimatort jeden Abend mit seiner Mutter flanieren ging. Und während sie so rumlaufen, trifft ihn auf einmal eine schallende Ohrfeige seiner Mutter, und sie sagt: »Hör auf, in der Nase zu bohren, und schau dir die Frauen an.« Sie wollte, dass ihr Sohn den Damen durch seine Blicke Anerkennung und Wertschätzung gab. Ein Bedürfnis, das so alt ist wie unsere Persönlichkeit. Unser Leben ist voll von Situationen, in denen wir die Möglichkeit haben, anderen Menschen das Gefühl zu geben, dass sie liebenswerte und schätzenswerte Menschen sind. Ich glaube, wir sollten jede Gelegenheit, die sich uns dafür bietet, auch ergreifen.
Zur Person
Dr. Björn Vedder, der 1976 in Brakel geboren wurde, lebt als Publizist und Kurator in München. Er studierte Literaturwissenschaft und Philosophie an der Ruhruniversität Bochum, der Humboldt-Universität zu Berlin und der Universität Bielefeld. Dort wurde er 2008 mit einer Arbeit über Literatur und bildende Kunst promoviert. Seine Arbeiten befassen sich mit Philosophie, zeitgenössischer Kunst und Literatur.
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