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Juso-Chef Kevin Kühnert über den Zustand der Bundesregierung

Kühnert: »Merkels Linie ist diffus«

Bielefeld (WB). Im Arminia-Trikot ist Juso-Chef Kevin Kühnert am Samstag zum Christopher Street Day nach Bielefeld gekommen. »Keine Anbiederung«, sagt der 28-Jährige. »Ich bin ein echter Fan.« Ein Fan der Bundesregierung ist er dagegen nur bedingt. Das macht er im Gespräch mit Michael Schläger deutlich.

Juso-Chef Kevin Kühnert im Gespräch mit Michael Schläger. Foto: Bernhard Pierel

Empfinden Sie eher Schadenfreude oder Mitleid, wenn Sie auf die Asyldebatte der CDU/CSU schauen?

Kevin Kühnert: Weder noch. Mein primärer Blick gilt jetzt nicht den Unionsparteien, sondern mir geht es um die Betroffenen des erneuten Konflikts um Fragen der Asyl- und Migrationspolitik. Dieser Konflikt innerhalb der Union ist Ausdruck dafür, dass es eine große Zerrissenheit in unserer Gesellschaft gibt. Sie besteht in der Frage, wie man mit Flucht und Migration richtig umgeht. In diese Debatte hat die CDU/CSU nun einen Zungenschlag gebracht, der brandgefährlich ist. Es geht längst nicht mehr nur um Grenzsicherheit. Vielmehr wird im Kern in Frage gestellt, was wir in den vergangenen Jahrzehnten in Europa an Einigkeit geschaffen haben. Das für eine Landtagswahl aufs Spiel zu setzen ist unverantwortlich.

Aber hat Herr Seehofer nicht recht, wenn er die Flüchtlinge zurückweisen will, die anderswo in der EU bereits um Asyl gebeten haben?

Kühnert: Seit 2015 wird ja die Legende gesponnen, dass das Grundgesetz gebrochen worden sei. Die Politik in Deutschland hat nie deutlich genug gesagt, dass sie europäischem Recht gefolgt ist. Wir nutzen gern alle die Vorzüge des Schengen-Abkommens. Das bedeutet aber auch, dass die Flüchtlingsfrage gemeinsam von allen Europäern gelöst werden muss. Die Alleingänge, die Horst Seehofer vorschlägt, sind hochgefährlich. Wenn Deutschland sagen würde, wir lassen niemanden mehr rein, der anderswo registriert ist, dann werden die anderen Länder die Menschen einfach nicht mehr registrieren.

Sie sind also auf der Linie der Kanzlerin.

Kühnert: Die Linie der Kanzlerin ist wie so oft diffus. Was man weiß, ist, dass sie nicht für das ist, was Horst Seehofer will. Wofür sie genau ist, ist nicht so richtig klar. Ihr fliegt der Laden im Moment um die Ohren. Wäre Seehofer nicht auf einem Egotrip unterwegs, dann könnte er ihr bei der gewünschten europäischen Lösung übrigens helfen, indem er seine neuen rechten Freunde in Wien und Rom davon überzeugt.

Hält die Regierung?

Kühnert: Das liegt in den kommenden Tagen zuallererst in den Händen der Union. Wir kennen das Spiel, dass die CSU die CDU vor sich hertreibt. Ich habe jetzt erstmals in Berlin eine Stimmung erlebt, wo sich langjährige Beobachter nicht mehr sicher sind, ob sich beide wieder zusammenraufen.

SPD-Analyse »Aus Fehlern lernen«

»Aus Fehlern lernen« heißt die gerade vorgelegte Analyse zur SPD-Niederlage bei der Bundestagswahl. Welcher war der größte?

Kühnert: Der wichtigste Punkt in diesem Papier ist die Aussage, dass eine Politik, die versucht, es allen recht zu machen, es am Ende niemandem recht machen wird. Diese Kritik teilen die Jusos. Die SPD muss in den wesentlichen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen eine klare Haltung einnehmen, auch auf die Gefahr hin, dass einzelne dann sagen werden, das ist nicht meine Position. Andere werden aber sagen, dem schließe ich mich an.

Warum mag keiner mehr so richtig die SPD?

Kühnert: 20 Prozent bei der Bundestagswahl ist noch ein Stück von »niemand mag uns mehr« entfernt. Wahlforscher sagen, dass die SPD im Prinzip immer noch das größte Wählerpotenzial hat. Viele können sich vorstellen, SPD zu wählen, tun es aber nicht. Wir haben sehr viel regiert in den vergangenen 20 Jahren, und wir sind dabei ein bisschen zu einer Partei verkommen, die nur für das saubere Regierungsgeschäft zuständig ist. Aber wenn ich nachts um drei die Leute wecken und fragen würde, was sind die drei Themen, die sie spontan mit der SPD verbinden, dann wird ihnen dazu nicht viel einfallen. Zuletzt war es vielleicht noch der Mindestlohn, aber sonst nicht viel. Das wollen wir jetzt dringend ändern.

Und was wären die drei Themen, die die Leute mitreißen würden?

Kühnert: Wenn ich die aktuelle Debatte verfolge, dann sollten wir die Partei sein, die klar zu Europa und zur Europäischen Union steht. Anscheinend sind wir in der Großen Koalition aktuell die einzigen, die dazu ein ungebrochenes Verhältnis haben.Das zweite Thema: Wir steuern auf ein riesiges Dilemma bei unseren sozialen Sicherungssystemen zu, vor allem bei der Rente. Sind wir bereit, große Kraftanstrengungen zu unternehmen, um unsere Rente zu retten, oder setzen sich die durch, denen das aktuelle System von jeher ein Dorn im Auge war? Ich jedenfalls will die gesetzliche Rente retten.Das dritte wichtige Thema gerade aus der Perspektive meiner Generation ist, dass wir investieren. Ich glaube, wir haben einen falschen Schuldenbegriff in Deutschland. Wenn wir von Schulden sprechen, denken alle an rote Zahlen im Haushalt. Ich glaube, dass mangelnde Investitionen in Infrastruktur, Bildung, oder Digitalisierung auch Schulden sind, die an folgende Generationen weitergegeben werden. Wo müssen wir also mutiger investieren, um unsere Gesellschaft auf der Höhe der Zeit zu halten?

Zwischenbilanz der GroKo

Die Große Koalition regiert seit 100 Tagen. Wie sieht Ihre erste Bilanz aus?

Kühnert: Es ruckelt sich noch zurecht. Ich sehe das Bemühen gerade bei unseren Leuten, Fehler vom letzten Mal nicht zu wiederholen. Das gelingt aber nicht immer. Was sehr gut funktioniert hat, ist der Einsatz für das Rückkehrrecht zu Vollzeit nach einer Teilzeitphase. Das hatte die Union verschleppt. Jetzt ist es mit großen Nachdruck gelungen, dass endlich durchs Kabinett zu bringen. So wünsche ich mir meine Partei in der Koalition. An anderen Stellen, etwa beim Thema Haushalt, war mir das zu zahm. Da sind mir die Unterschiede nicht deutlich genug geworden.

Finanzminister Olaf Scholz würden Sie raten, ein bisschen mehr Geld locker zu machen.

Kühnert: Ich verstehe, wenn Olaf Scholz sagt, die schwarze Null im Haushalt sorgt bei vielen Menschen für Vertrauen in die Politik. Ich glaube nur, dass eine schwarze Null und eine starke Investitionspolitik sich nicht widersprechen. Wenn das Geld, dass wir brauchen, um zu investieren, nicht auch ausreicht, um zu garantieren, dass wir eine schwarze Null bekommen, dann brauchen wir eine Debatte, ob starke Schultern in unserer Gesellschaft ausreichend daran beteiligt sind, unser Gemeinwesen zu finanzieren.

Also die Reichen sollen mehr Steuern zahlen.

Kühnert: Das werden wir mit unserem Koalitionspartner kaum durchsetzen können, weil CDU und CSU sich an die oberen fünf Prozent unserer Gesellschaft nicht ran trauen.

Wie füllt Frau Nahles ihre Doppelrolle als Parteivorsitzende und Fraktionschefin aus?

Kühnert: Andrea Nahles hat im politischen Berlin im Moment einen der schwierigsten Jobs. Wahrscheinlich will kaum jemand mit ihr tauschen, ich auch nicht. Es ist ihr und Generalsekretär Lars Klingbeil zu verdanken, dass wir die die schonungslose Wahlanalyse veröffentlicht haben. Das finde ich gut. Künftig werden wir innerparteilich aber noch deutlich mehr diskutieren und verschleppte Themen klären müssen. Andrea Nahles ist gelernte Juso-Vorsitzende und an inhaltlicher Debatte interessiert. Sie moderiert Konflikte nicht weg, sondern sie geht sei ein. Man bekommt von ihr eine klare Ansage, damit kann ich arbeiten.

Nahles als Kanzlerkandidatin?

Wäre sie auch die richtige Kanzlerkandidatin?

Kühnert (schmunzelt): Jetzt gibt’s eine typische Politiker-Antwort darauf: Der Kanzlerkandidatur-Prozess beim letzten Mal war mies. Wir wollen das beim nächsten Mal frühzeitiger machen. Dazu müssen wir uns auch ein paar kluge Gedanken machen. Drei Jahre vorher sind aber doch noch zu früh dafür.

Die Idee einer linken Sammlungsbewegung von Sahra Wagenknecht und Oskar Lafontaine – können Sie der etwas abgewinnen?

Kühnert: Ich finde es gut, wenn linke Kräfte gesammelt werden. Bei einer Situation wie in den letzten vier Jahren Bundestag, wo Mitte-Links eine Mehrheit hat, die Gelegenheit aber nicht genutzt wird und am Ende wieder die große Koalition regiert, zeigt sich unser Problem. Das sollte man vermeiden. Die linke Sammlungsbewegung, die ich mir vorstelle, ist Rot-Rot-Grün, das sind Parteien, die es jetzt schon gibt und die in einzelnen Ländern gemeinsam regieren. Ich würde mir wünschen, dass diese Parteien ihre Konflikte einmal miteinander besprechen. Im Moment können alle begründen, warum sie im Bund nicht miteinander koalieren können. Es wäre schön, wenn es einmal darum ginge, wie man diese Hürden überwindet. Die einzigen, die bislang davon profitieren, sind die konservativen, gegen die dann niemand regieren kann.

Jetzt sagen manche, der Kühnert, der hat gut reden, der muss am Ende nicht den Kopf für Entscheidungen hinhalten.

Kühnert: Das ist oberflächlich betrachtet richtig. Ich bin nicht Abgeordneter, ich bin nicht Teil der Bundesregierung, ich muss das nicht täglich verantworten. Aber ich glaube, ich spreche Dinge aus, die ein erheblicher Teil in der SPD teilen kann, und trage damit etwas zur notwendigen politischen Debatte in der SPD bei. Ich versuche, das immer konstruktiv zu machen. Die Jusos und ich, wir wollen Verantwortung übernehmen. Ich bin jetzt Teil einer dieser Lenkungsgruppen, die die Erneuerung der SPD vorantreiben sollen, und dort wird hart gearbeitet. Da rauchen die Köpfe.

Wie umgehen mit dem Hype?

Das »Time Magazine« hat Sie zu einem der »Next Generation Leader«, zu einem der künftigen politischen und gesellschaftlichen Führungspersönlichkeiten weltweit gekürt. Bei all dem Hype um ihre Person in den vergangenen Monaten: Wie behalten Sie Bodenhaftung?

Kühnert: Es ist eine Typ-Frage. Ich würde von mir behaupten, ich neige nicht zum Abheben, und ich habe ein Umfeld, das mir spiegeln würde, wenn das passierte. Nehmen wir diese »Time Magazine«-Geschichte: Ich finde das eher lustig, als dass es mir viel bedeutet. Das ist nett, da kann ich mich eine halbe Stunde drüber freuen. Aber ich mache Politik in Deutschland, bin in einer Partei, und ich kann nie Erfolg gegen diese Partei haben. Ich will, dass es der Sozialdemokratie wieder besser geht, denn sie wird gebraucht. Der geht es im Moment nicht so gut.

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