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Bei vollen Bezügen vom Präsenzunterricht befreit – Quote geht zurück

6355 Lehrer haben ein „Corona-Attest”

Düsseldorf (WB). Die Zahl der Lehrkräfte, die sich in Nordrhein-Westfalen aus Angst vor dem Corona-Virus vom Präsenzunterricht befreien lassen, geht zurück.

Christian Althoff

Unterricht 2020: Nichts ist mehr so wie früher, und zu allem Übel müssen die Schulen auch noch auf tausende Lehrer verzichten. Foto: dpa

In der vergangenen Woche blieben in NRW 6355 Lehrer (3,1 Prozent) zu Hause, weil sie nach Einschätzung ihres Arztes im Falle einer Infektion einen schweren Verlauf fürchten müssen. Eine Woche zuvor waren es noch 9225 (4,5 Prozent) gewesen. Zu Spitzenzeiten im Frühjahr, als es in NRW noch keine Attestpflicht gab, sollen bis zu 20 Prozent zu Hause geblieben sein – bei vollen Bezügen.

Lehrer wollen Schüler unterstützen

Maike Finnern, die Landesvorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW): „Dass die Zahlen zurückgehen, ist eine gute Entwicklung. Sie zeigt, wie sehr Lehrkräfte daran interessiert sind, Schüler in diesen schwierigen Zeiten zu unterstützen.” Auch NRW-Schulministerin Yvonne Gebauer (FDP) nannte den Rückgang „erfreulich” und sagte: „Die gestiegene Personalversorgung wird dazu führen, dass die Schulen auch in Corona-Zeiten für beste Bildung sorgen können.“

Vielleicht ist aber auch nicht jede Rückkehr an die Schule freiwillig. Vereinzelt ist nämlich zu hören, dass es Fälle geben soll, in denen selbst Lehrer mit schweren Vorerkrankungen in ihrem Kollegium unter Druck gesetzt wurden, endlich wieder zu unterrichten.

Keine Infos zu Haupt-Diagnosen

Seit Ende Mai können sich Lehrkräfte in NRW nur noch vom Präsenzunterricht befreien lassen, wenn sie ein ärztliches Attest vorlegen. Aus dem muss hervorgehen, dass bei ihnen im Fall einer Corona-Infektion „die Gefahr eines schweren Verlaufs” besteht. Dabei sind die Kriterien des Robert-Koch-Instituts (RKI) zugrundezulegen.

Das RKI nennt als Risikofaktoren zum Beispiel ein Alter ab 50-60, Diabetes, Krankheiten an Leber, Niere und Herz, Krebs, eine regelmäßige Cortison-Einnahme (sie senkt die Immunabwehr), Kreislaufkrankheiten, aber auch Übergewicht und Rauchen. Inzwischen hat das RKI klargestellt, dass das bloße Vorliegen eines der Faktoren zur Risiko-Einschätzung nicht reicht, sondern es einer „individuellen Risikobewertung im Sinne einer (arbeits-) medizinischen Begutachtung” bedarf.

Was die Haupt-Diagnosen in den tausenden Attesten der Lehrer sind – dazu möchte sich das Schulministerium nicht äußern. Es begründet das mit dem Schutz „sensibelster Gesundheitsdaten”.

Bislang keine juristische Durchsetzung nötig

Im Gegensatz zu anderen Bundesländern werden in NRW alle Atteste akzeptiert, eine Überprüfung durch Amtsärzte erfolgt in der Regel nicht. Alexander Spelsberg, Sprecher der Gewerkschaft Verband Bildung und Erziehung (VBE) in NRW: „Wir kennen keinen Fall, in dem ein Lehrer seinen Wunsch, keinen Präsenzunterricht abhalten zu müssen, juristisch durchsetzen musste.”

Das sieht in anderen Bundesländern anders aus. So musste etwa die schleswig-holsteinische Bildungsministerin Karin Prien (CDU) massive Kritik der Lehrergewerkschaft GEW aushalten. In dem nördlichsten Bundesland mit seinen etwa 25.000 Lehrern hatten bis Mitte Juni 1609 Lehrkräfte ein haus- oder fachärztliches Attest vorgelegt, um nicht vor Klassen unterrichten zu müssen. Die Atteste wurden einer Amtsärztin vorgelegt. 780 Atteste hatte sie bis Mitte Juni kontrolliert und nur in 32 Fällen der Unterrichtsbefreiung zugestimmt. Die Ministerin sagte dazu der „Welt am Sonntag”: „An einer Zivilisationskrankheit wie Übergewicht oder Asthma zu leiden begründet abstrakt noch kein besonderes Schutzbedürfnis. Übrigens ja auch nicht bei Verkäufern im Supermarkt.”

Nach massiver Kritik durch Gewerkschaften sieht die Quote in Schleswig-Holstein inzwischen anders aus: Bis Dienstag waren nach Ministeriumsangaben 2000 Atteste überprüft, 1900 wurden akzeptiert.

Schulen in NRW sollen keine Corona-Herde sein

NRW hat sich gegen eine Überprüfung der Lehrer-Atteste entschieden – um den überlasteten Gesundheitsämtern nicht noch mehr Arbeit aufzuhalsen, wie es aus dem Schulministerium in Düsseldorf heißt.

In Kiel wurde Yvonne Gebauers Amtskollegin Karien Prien von der GEW hart angegriffen. Das Vorgehen ihrer Amtsärztin sei „jenseits von Gut und Böse”, die Ministerin müsse dem „skandalösen Vorgehen” Einhalt gebieten, das „rüde Vorgehen” der Amtsärztin gefährde die Gesundheit „vieler Kolleginnen und Kollegen”. Allerdings: Das Verwaltungsgericht Schleswig hat jüngst acht Klagen von Lehrern gegen die Ablehnung ihres Attests abgewiesen, eine weitere Klage wurde zurückgenommen.

Dass Schulen in NRW Corona-Herde sein könnten – dafür sprechen die veröffentlichten Zahlen aktuell nicht. Laut Schulministerium waren am 19. August landesweit 30 corona-infizierte Lehrer bekannt – (etwa 0,014 Prozent von 205.000 Lehrkräften). Zum selben Stichtag waren 306 Schülerinnen und Schüler positiv getestet (etwa 0,012 Prozent der knapp 2,5 Millionen Schüler). Schaut man sich die gesamte Gesellschaft an, lag die bundesweite Quote der bekannten Infizierten am Stichtag mit 0,016 Prozent sogar noch leicht über den Schulwerten.

Eine Freistellungsregelung wie für Lehrer ist aus anderen Branchen übrigens so nicht bekannt. Hermann Janßen, bei der Gewerkschaft Verdi in Ostwestfalen-Lippe für den Handel zuständig: „Die Ängste sind aber die gleichen. Wir haben am Anfang der Corona-Krise in zwei Wochen 900 telefonische Beratungen gemacht. In manchen Fällen konnten wir erreichen, dass gefährdete Kassierinnen vorübergehend andere Arbeiten machen konnten.”

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